Jüdische Spuren in Ober-Ingelheim

Rundgang durch Ober-Ingelheim

Ein Rundgang entlang von Wohn-, Arbeits- und Versammlungsplätzen von Ingelheimer Juden. Die Wegstrecke beträgt etwa 2,5 km.

1 Städtischer Friedhof in der Rotweinstraße

Halten Sie sich links. Hinter einer immergrünen Hecke sehen Sie die letzten Grabstätten Ingelheimer Juden. Dieser Friedhof wurde 1930 angelegt, als die frühere Begräbnisstätte in der Hugo-Loersch-Straße zu klein geworden war. Folgen Sie dem Gehauweg und gehen Sie zum Platz vor der Burgkirche.

Siehe Jüdischer Friedhof Rotweinstraße

Sehen Sie auch die Internetseiten  zu den Ingelheimer Friedhöfen auf Epidat Alemannia Judaica

Grabstein auf dem Friedhof Rotweinstraße

2 Das Denkmal für die Gefallenen aus dem 1. Weltkrieg

Das Denkmal für die Gefallenen des 1. Weltkrieges vor der Burgkirche

Auf dem Denkmal in Form eines ägyptischen Obelisken, der für die Gefallenen im 1. Weltkrieg errichtet wurde, finden Sie die Namen Erwin Bonné und Julius Levy.

Beide waren Söhne jüdischer Familien, die in der Rinderbachstraße lebten. Dort bei Station 10 und 11 werden Sie den Familien wieder begegnen. Folgen Sie nun der Grabengasse und dem Jungfernpfad bis zum Synagogenplatz.

3 Die Synagoge (Synagogenplatz)

Der Synagogenplatz befindet sich an der Ecke Stiegelgasse/Jungfernpfad.

Die Ingelheimer Synagoge 1930 Quelle: Ausschnitt aus Luftbild Nr. 10198 Ober-Ingelheim. Quelle: Strähle Luftbild
Die Ingelheimer Synagoge 1930 Quelle: Ausschnitt aus Luftbild Nr. 10198 Ober-Ingelheim. Quelle: Strähle Luftbild

An diesem Ort, wo sich die jüdische Gemeinde von Ingelheim bis 1938 versammelte, findet jährlich die Gedenkfeier wegen der Reichspogromnacht am 9. November statt.

Die Ingelheimer Synagoge wurde am 10. November 1938 zerstört. Siehe auch Novemberpogrome.

Zur Geschichte der Ingelheimer Synagoge

Synagogen haben eine dreifache Bestimmung: als Haus der Versammlung, Haus des Lernens und Haus des Betens.

Bereits im 18. Jahrhundert existierte in Ober-Ingelheim ein bisher nicht zu lokalisierender Betraum. Der erste Plan zum Bau einer Synagoge ist 1815 nachweisbar.

Am 27. August 1841 wurde im hinteren Teil des Grundstücks Stiegelgasse 25 ein Neubau der Synagoge eingeweiht.

Während christliche Forscher die griechisch-römische Antike als ihr „Goldenes Zeitalter“ sahen, schauten die Pioniere der jüdischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert eher auf die arabisch-islamische Vergangenheit am Mittelmeer. Diese Gegend wurde als Orient bezeichnet. Die Suche nach Identität zeigte sich auch im Synagogenbau der damaligen Zeit. Wir finden eine Mischung aus europäischen und sogenannten orientalischen Stilen, wie man sie aus den islamischen Ländern des Mittelmeers und des Nahen Ostens kennt.

Auch der Ingelheimer Sakralbau brachte die jüdische und die deutsche Identität der Mitglieder der jüdischen Gemeinde Ingelheims zum Ausdruck: Sie waren deutsche Juden, die – ungeachtet von Diskriminierungen – hier zu Hause waren. Der orientalisierende Stil war einerseits ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Kirchen und wies andererseits auf den Ursprung der Religion im Nahen Osten hin.

Am 10. November 1938 schändeten und plünderten Ingelheimer und andere die fast 100 Jahre alte Synagoge. Die Ruine wurde niedergelegt und das Eigentum der Jüdischen Gemeinde 1939 verkauft.

Beschreibung
Innanaufnahme von der Ingelheimer Synagoge
Innenansicht der 1841 gebauten und 1938 zerstörten Ingelheimer Synagoge. Hans-Gerog Meyer erhielt das Foto von Lotte Moses, geb. Löwensberg, USA

Ein Tor führte vom Vorderhaus durch einen kleinen Garten zur Synagoge. Die Westfassade zierte ein treppenförmiger Giebel mit einem Zierband und einem großen Rundfenster. Die Männer betraten den Betsaal durch eine hufeisenförmige Zwillingstür in der Mitte. Die Frauen gingen durch Seiteneingänge rechts und links des Haupteingangs hinein, die zu den Emporen führten. Auch auf der Südseite soll es einen Eingang gegeben haben. Die Ausstattung der Synagoge entsprach dem Kultus des Reformjudentums. Das Pult, von dem aus der Tora gelesen wurde, stand nicht mehr in der Mitte, sondern war in Richtung Toraschrein versetzt. Im schlichten rechteckigen Betsaal reihten sich rechts und links vom Mittelgang zehn bis zwölf Bänke mit jeweils fünf bis sechs Sitzplätzen auf.

Dem Betsaal in Richtung Jerusalem vorgelagert war eine erhöhte, reich dekorierte Nische im orientalisierenden Stil.

Die untere Wandhälfte zierte ein gemalter Ornamentteppich, die obere ein Sternenhimmel. Den Abschluss zum Betsaal rahmten zwei kräftige Säulen ein, auf denen ein Hufeisenbogen ruhte. Der Thoraschrein hatte ebenfalls eine hufeisenförmige Gestalt. Gekuppelte Pfeiler trugen einen ornamentierten Bogen, der die Gesetzestafeln umspannte. Rechts und links standen auf einem Gesims zwei orientalisierende kleine Leuchter. Zwei große Leuchter flankierten den Schrein.

Die Synagoge war mit einer Orgel ausgestattet. Zeugenaussagen platzieren sie an unterschiedliche Stellen.  Laut einer Aussage stand sie rechts vom südlichen Eingang. Einer anderen Aussage zufolge stand sie auf einer Empore über dem westlichen Haupteingang.

Die Kinder saßen rechts und links im Halbrund der Thora-Nische auf halbkreisförmigen Bänken. Vor der Nische stand ein Pult, von dem die Thora den Gemeindemitgliedern vorgelesen wurde.

Die Ingelheimer Synagoge zählte zu den frühen und größeren orientalisierenden Bauten.

 Literatur:

Meyer/Mentgen 1998, aaO. S. 385ff.

Stefan Fischbach, Ingrid Westerhoff: Synagogen Rheinland-Pfalz – Saarland, Mainz 2005. Herausgegeben vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz mit dem Staatlichen Konservatoramt des Saarlandes und dem Synagogue Memorial Jerusalem.

Siehe auch die Internetseiten von Allemania Judaica.

Die Stele

Als Zeichen der Erinnerung und Mahnung steht heute die Betonstele neben dem Standort der zerstörten Synagoge. Ihre durchlöcherte Oberfläche symbolisiert die Spuren der Verletzung: ein Sinnbild für ein einstmals existierendes intaktes Haus – die israelitische Gemeinde Ober-Ingelheim. Auch sie wurde Opfer des nationalsozialistischen Rassismus. Freunde, Nachbarn, Bekannte waren zu Feinden geworden, schändeten und zerstörten das jüdische Gotteshaus, das einst an dieser Stelle stand.

Die Stele auf dem Synagogenplatz

Oben sind zwei Davidsterne dargestellt, einer erhaben, einer vertieft. Sie symbolisieren helle und dunkle Stunden in der Geschichte des jüdischen Volkes. In die Basis der Stele eingegossen ruht ein Stein vom Berg Sinai als Zeichen des Respekts und Bezugs zur jüdischen Tradition. Im engen Dialog hierzu verstehen sich die in die Stele eingearbeiteten Natursteine rheinhessischer Herkunft und Bautradition als Sinnbild der Heimat der Ingelheimer Juden.

Im Jahre 1992 setzten Schülerinnen und Schüler des Sebastian-Münster-Gymnasiums in Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Israelischen Freundeskreis dieses Zeichen. Der Synagogenplatz wurde 2008 in Zusammenarbeit zwischen der Stadt Ingelheim und dem Deutsch-Israelischen Freundeskreis renoviert und in Anwesenheit von ehemaligen Ingelheimer jüdischen Bürgern und ihren Kindern und Enkeln am 9. November 2008 der Öffentlichkeit übergeben. Auf einer Gedenktafel wird der Ingelheimer  erinnert, die aufgrund der Rassegesetze der nationalsozialistischen Diktatur ermordet wurden bzw. vermisst werden.

4 Das Schuhgeschäft Schäfer & Raphael

Werbeanzeige aus der Ingelheimer Zeitung vom 13.10.1925.

Das Haus Stiegelgasse 29 steht an der Ecke zum Synagogenplatz. Familie Schäfer betrieb hier seit mindestens 1865 das Schuhgeschäft Schäfer & Raphael. In der Reichspogromnacht am 9.-10.11.1938 wurde auch dieses Geschäft überfallen und demoliert. Familie Schäfer wohnte zuletzt in der Bingerstraße (links neben dem Kopierladen) und wurde am 20.9.1942 deportiert. Drei Stolpersteine im Straßenpflaster erinnern daran, dass Betty, Ernst und Renate Schäfer in diesem Haus ihren letzten Wohnsitz in Ingelheim hatten (Meyer 1998, S. 258).

5 Der Lehrer und Vorbeter Ludwig Langstädter

Ludwig Louis Langstädter (Mitte) und Mitglieder des Arbeitergesangvereins Freiheit. Bis zur Auflösung des Vereins 1933 war er der Dirigent.
Ludwig Louis Langstädter (Mitte) und Mitglieder des Arbeitergesangvereins Freiheit. Bis zur Auflösung des Vereins 1933 war er der Dirigent.

Im Vorderhaus zur Synagoge wohnte Familie Louis Ludwig Langstädter, *1879. Er war Lehrer an der Volksschule Ober-Ingelheim und Vorbeter in der Synagoge.

Der Zeitzeuge Karl Zerban erzählte 1991: „Langstädter war mein Klassenlehrer. Er hat über der Synagoge gewohnt und war ein normaler Lehrer. … Der Langstädter war ein sehr ruhiger, in sich gekehrter Mensch. Er hat so schon nicht viel gelacht, aber nachher hatte er ja gar nichts mehr zu lachen. Er wurde schwer misshandelt, auch seelisch. Die mussten mit der Schippe ’rummarschieren und wurden dann später abtransportiert[1942].

Auf dem Marktplatz standen die LKW’s, wo die Leute rauf mussten und weggefahren wurden, es war schrecklich.“ (Meyer 1998,  S. 373)

6 Der Hirsche Seppl

Wenn Sie die Stiegelgasse aufwärts in Richtung Markt gehen, so sehen Sie auf der linken Seite ein Haus mit einem originellen spitzbogigem Eck-Eingang mit dem Schriftzug Genossenschaftsbank.

Die Familie Hirsch lebte fast 200 Jahre in der Stiegelgasse 8 und führte hier ihr Geschäft. Der erste nachweisbare Vorfahre war Veit Hirsch aus Großwinternheim. Für ihn wurde 1844 der erste erhaltene Grabstein der Familie auf dem jüdischen Friedhof in der Hugo-Loersch-Straße gesetzt.

Die handelte mit Vieh, Getreide, Futtermitteln, Lebensmitteln und Früchten. Einige Familienmitglieder waren Metzger. Veith Hirschs Sohn Josef hatte elf Kinder. Von ihnen lebten fünf in Ingelheim. Josefs ältester Sohn Heinrich übernahm ungefähr 1872 das Geschäft der Eltern und führte es bis zu seinem Tod im Jahre 1901 weiter. Nach Heinrichs Tod übernahm sein Sohn Josef das Geschäft. Die Ober-Ingelheimer nannten ihn den „Hirsche Seppl“. Er engagierte sich in der politischen Gemeinde als Hilfsschöffe und war 10 Jahre für die SPD im Gemeinderat tätig. Wie dreißig andere Ingelheimer Juden nahm er am Ersten Weltkrieg teil.

Als 1933 der Aufruf erging: „Kauft nicht bei Juden“, betraf dies auch die Familie Josef Hirsch. Die Einnahmen gingen zurück. 1938 entschloss sich die Familie zum Verkauf und zur Planung der Emigration. Die Ingelheimer Zeitung vom 7. Mai 1938 teilte mit, dass das Geschäft in den Besitz der Spar- und Darlehenskasse Ober-Ingelheim übergegangen sei. Der Schriftzug ist bis heute über dem Eingang zu erkennen.

Bereits im Jahr 1927 war Josef Hirschs ältester Sohn Leopold nach Argentinien ausgewandert. Für die Menschen, die während der NS-Diktatur fliehen mussten, waren Verwandte im Ausland ein großes Glück. Sie konnten für die Flüchtlinge bürgen, ein Visum besorgen und wenn die Flucht geglückt war, bei der Integration im Aufnahmeland helfen.

Laut Eintragung im Ingelheimer Einwohnermeldeamt konnten Josef Hirsch und seine Frau Sally am 19. Januar 1939 Ingelheim mit Ziel Buenos Aires verlassen. Oft kennen wir nur wenige Fakten. Was der Heimatverlust bedeutete und wie schwer der Neuanfang gewesen sein muss, können wir nur erahnen.

Auch der zweite Sohn Heinrich Hirsch konnte nach Argentinien entkommen.

Der dritte Sohn Kurt Hirsch war in Pirmasens verheiratet. Er konnte noch 1940 nach Argentinien fliehen.

Das wissen wir aus einem Brief von Hedwig Neumann, den sie im Oktober 1940 an ihre Kinder in den USA geschrieben hat:

„Kurt Hirsch soll auch jetzt in Buenos Aires sein, wo seine Eltern sind. Nun hat´s Sally (also seine Mutter) geschafft. Wie schwer war es doch für sie und wie froh kann sie sein, daß sie bei ihren Kindern ist.“

Damit endet die Geschichte der Familie Hirsch in Ingelheim. Die Familie hatte das seltene Glück, flüchten zu können und ein Aufnahmeland zu finden. Argentinien nahm sie auf. Wir können das Heimweh nur erahnen. Heinrich Hirsch Junior unterhielt bis zu seinem Tod im Jahr 1988 Kontakte nach Ingelheim.

7 Branddirektor und Kreisfeuerwehrinspektor Ferdinand Mayer

Ferdinand Mayer
Branddirektor Ferdinand Mayer

Ein paar Schritte weiter erreichen Sie den Marktplatz von Ober-Ingelheim. Dort wo heute das Tabakwarengeschäft Bambach ist, lebte vor über 100 Jahren Ferdinand Mayer.

Ferdinand Mayer (1837 – 1901) war ein angesehener Bürger. Er war 20 Jahre lang Mitglied im Ober-Ingelheimer Gemeinderat und engagierte sich in vielen Vereinen. Sein Lebensinhalt aber war die Feuerwehr. Ab etwa 1874 wirkte er als Branddirektor von Ober-Ingelheim und ab 1891 zusätzlich als Kreisfeuerwehr-Inspektor bis zu seinem frühen Tod mit 64 Jahren.

Der Heinrich Herbert schreibt über ihn im Ingelheimer Lesebuch:

 1. Reihe v.l.n.r. Krämer Wilhelm, Wolf Johann, Winternheimer Guirid, Kippenberger Georg (Adjutant), Mayer Ferdinand (Branddirektor), Mangold Herbert (Oberbrandmeister), Flohr, r.p.weiland
Ein Foto von der Ober-Ingelheimer Feuerwehr aus dem Jahr 1885  1. Reihe v.l.n.r.: Krämer Wilhelm, Wolf Johann, Winternheimer Guirid, Kippenberger Georg (Adjutant),  Mayer Ferdinand (Branddirektor), Mangold Herbert (Oberbrandmeister), Flohr,
Fotoarchiv Weiland

„Auf der anderen Seite des Marktplatzes, im heutigen Tabakhaus Bambach-Schwarz, lebte … eine ebenso bekannte wie markante jüdische Persönlichkeit, der Junggeselle [was nicht stimmt, er war mit Barbara/Babette Mayer, geb. Löb verheiratet, Anm. d. Red.] Ferdinand Mayer junior. Er war Bankdirektor, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, Gemeinderat und Großherzoglicher Kreis-Feuerwehr-Inspektor. Daneben fungierte er als Kommandant der Ortsfeuerwehr und war auch noch im Vereinsleben sehr aktiv……. Sein Haus hatte er im Jahre 1900 von seinem damals verstorbenen Onkel gleichen Namens geerbt“ (Herbert 1992, S. 111, Meyer 1998, S. 312f.)

Das Feuerwehrgerätehaus in Nieder-Ingelheim wurde am 9. November 1999 nach ihm benannt. Deutsch-Israelische Freundeskreis Ingelheim e.V. gab aus diesem Anlass eine Broschüre unter dem Titel: „Ferdinand Mayer. Sein Leben war die Feuerwehr“ heraus. Autor ist Hans-Georg Meyer.

8 Der „Kuh-Kahn“

Über die Familie Kahn erzählt Heinrich Herbert:

„Im Nachbarhaus Neuweg Nr. 1, seinem eigenen Anwesen, hatte der Viehhändler Kahn sein Geschäft. Man nannte ihn den „Kuh-Kahn“oder auch den „Linse-Kahn“; auch als „die Lins“ war er bekannt. Er soll auf einem Augenlid eine Warze in Form einer Linse gehabt haben. Das Ehepaar Kahn hatte einen Sohn Harry, dessen Name englisch ausgesprochen wurde. Seine Schulkameraden wandelten den Namen geringfügig um; es wurde „Hering“ daraus. Schließlich war der Bub überall, des ‚Kuh-Kahne Hering’“ (Herbert 1992, S. 110). Siehe auch Stolpersteine, Verlegestelle Neuweg 1 (Nr. 8)

9 Der „Kappe-Kahn“

Ein Teil des Hutgeschäfts Kahn am Markt /Eingang zur Rinderbach-
straße (rechter Bildrand)

Wo das indische Restaurant war, erwirtschaftete Familie Moritz Kahn seit 1872 ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Hüten und Schirmen (siehe Foto). Moritz Söhne Eugen und Wilhelm führten das Geschäft weiter, bis sie es nach der Reichspogromnacht 1938 verkaufen mussten. Beide nannte man „Kappe-Kahn“. Der 58-jährige Wilhelm Kahn wohnte dort bis 1940. 1942 wurde er von Mainz aus deportiert und gilt als vermisst. Wilhelms Kinder Heinz und Ursula konnten sich in die USA retten. Heinz kam 1945 als Angehöriger der amerikanischen Armee nach Ingelheim, um seine Eltern zu suchen. Diese Suche blieb ergebnislos (Meyer 1998, S. 255).

10 Familie Bonné

Walter Bonné (rechts) als Ringrichter bei einer Karnevalsveranstaltung im Narrenstadion in Ober- Ingelheim

In der Rinderbachstraße 9 gründeten die Brüder Julius, Moritz und Siegmund Bonné 1879 ein Weinhandelsgeschäft. 1901 verkauften sie Weinhefen. Erwin Bonné, der im 1. Weltkrieg fiel, war ein Sohn von Moritz Bonné. Als es nach dem 1. Weltkrieg schwierig wurde, Waren aus dem französisch besetzten Rheinhessen über den Rhein zu transportieren, geriet die Familie in finanzielle Not. Moritz jüngster Sohn Walter emigrierte 1932 nach Spanien, der Vater floh 1937 nach Portugal. Walter kehrte als einer der wenigen Ingelheimer Juden 1945 für kurze Zeit in seine Geburtsstadt zurück. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt ihn bei einer Karnevalsveranstaltung. Auch vor dem Krieg gehörte er dem Karnevalsverein an. Er starb 1984 in einem Altersheim in Neustadt an der Weinstraße (Meyer 1998, S. 229, 304).

Briefkopf der Weinkommission Bonné

11 Familie Dr. Karl Levy

Dr. Levy, Vater von Julius Levy mit Melone, rechts daneben Bürgermeister Bauer Quelle: Fotoarchiv Weiland
Dr. Karl Levy, Vater von Julius Levy mit Melone, rechts daneben Bürgermeister Bauer
Quelle: Fotoarchiv Weiland

In dem Haus mit den grünen Fensterläden in der Rinderbachstrasse 13 lebten Dr. Karl Levy und seine Frau Bertha mit ihren Kindern Jenny und Julius. Sie verloren ihren Sohn im 1. Weltkrieg. (siehe Denkmal für die Gefallenen aus dem 1. Weltkrieg). Levy wohnte und praktizierte in diesem Haus. Aus manch überlieferter Anekdote geht hervor, dass Levy ein beliebter und engagierter Arzt war.

RhhB_Levy Jul Nachruf OI 2 Feb 1916
Todesanzeige des Jahrgangs 1897 im Rheinhessischen Beobachter vom 2. Februar 1916

Heinrich Herbert erzählt:

„Um 1920 war meine Mutter wegen einer Erkrankung wochenlang bettlägerig. Da erwischte es auch noch den Vater mit einer Grippe. Aber er konnte sich als Landwirt nicht auch noch ins Bett legen…. Der Doktor gab ihm eine Arznei, die jedoch nicht viel half. Der Vater schleppte sich mit der Grippe hin. Eines Tages merkte der Doktor aber, dass die Krankheit wie weggeblasen war. Und im Beisein der Mutter fragte er, was der Vater denn gegen die Grippe getan habe. ‚E Flasch heiße Rote mit 3 Gläsjer Konjak drin und ins Bett und zugedeckt bis iwwer die Ohre. Am neegschte Daach war ich gesund.’ ‚Sowas tut ein Schwein!’, sagte Dr. Levy langsam und mit Nachdruck. Als der Vater ihm aber das Hoftor öffnete, drehte sich der Doktor noch einmal um, klopfte ihm auf die Schulter und sagte jovial: ‚Karl, hast recht gehatt, Glühwein hilft auch mir am beste, nur brauch ich so keine Kühbütt voll wie du.’“ (Meyer 1998, S. 309)

Julius Levi, Todesanzeige Januar 1916
Julius Levi, Todesanzeige Januar 1916 Rheinhessischer Beobachter

Die Tochter Jenny studierte in Heidelberg Medizin. 1934 verkauften Levys ihr Haus und emigrierten zusammen mit ihrer Tochter nach Haifa. Aus Postkarten von Julius aus dem 1. Weltkrieg geht hervor, wie unterschiedlich die Einstellungen der deutschen Juden waren: Ido Netanjahu schrieb 2005 in dem israelischen Literaturmagazin Koteret: „Julius Vater, der Großvater meiner Schwiegermutter, verehrte Herzl und ging nach Basel, um ihn zu sehen. Julius erwähnt sein Judensein nie, obwohl dies Briefe an seine Familie sind! Ein Leser, der seinen Familiennamen und seine Herkunft nicht kennen würde, käme niemals auf die Idee, dass er jüdisch war. Zumindest während des Krieges hielt sich Julius völlig für einen Deutschen, nur Deutschen. Andere Juden, welche in dieser Zeit in die deutsche Armee eintraten, fühlten ähnlich, denn Deutschland war eines der europäischen Länder, das die Tore der Freiheit für die angehörigen des mosaischen Glaubens öffnete.“

Quelle: Koteret, April 2005, S.32f. Übersetzung: Klaus Dürsch

Die Materialien dürfen für pädagogische Zwecke verwendet werden. Weitere Informationen finden Sie in der Dokumentation: Hans-Georg Meyer/Gerd Mentgen: Sie sind mitten unter uns. Das Buch kann beim DIF für 20.- Euro erworben werden.

Siehe auch: Hans-Georg Meyer, Karoline Klausing 2011:  Freudige Gefolgschaft und bedingungslose Einordnung …? Der Nationalsozialismus in Ingelheim. Leinpfad-Verlag, 700 Seiten.

https://dif-ingelheim.de