Stolpersteine in Heidesheim
In Heidesheim wurden sieben Stolpersteine verlegt, sowie eine Stolperschwelle vor der Wohnanlage ZOAR. In den nächsten Wochen werden an dieser Stelle die Schicksale der betroffenen Personen dargestellt.
Grabenstraße 46
Max und Johanna Holländer, Schlossmühle
Binger Straße 1
Rosa Gruner (geb. Ehrenstamm)
Römerstraße 19
Rosalie Heiser (geb. Stein)
Helena Stein
Berta Stein
Oberdorfstraße 10
Rosalia Bär (geb. Ehrenstamm)
Binger Str. 46
Vor der ZOAR, seit dem 1. April 1938 „Landesalters- und Pflegeheim Heidesheim“ genannt, wurde für die 73 Euthanasieopfer eine Stolperschwelle in das Pflaster eingebracht.
Stolpersteine Max u. Johanna Holländer
Für Max und Johanna Holländer wurden im März 2012 zwei Stolpersteine ins Straßenpflaster vor der Schlossmühle in Heidesheim gesetzt.
1939 sang man in einer Karnevalveranstaltung in Heidesheim nach der Melodie “Ein Jäger aus Kurpfalz” und der Überschrift “Juden raus”: „jetzt jagen wir den Jud zum Dorf hinaus.“
Es handelte sich vor allem um ein Ehepaar aus der Schlossmühle, das seit fast 20 Jahren dort lebte.
Max Holländer war Apotheker und Besitzer der Schützenhof-Apotheke in Wiesbaden – auch „Schützenhof Apotheke“ – die noch heute in der Langgasse 11 in der Innenstadt existiert. Diese traditionsreiche Apotheke besteht seit 1672, unter dem damaligen Grafen Johannes von Nassau-Saarbrücken privilegiert gegründet. Der Hofapotheker Max Holländer wird noch heute hier in einer langen Reihe der Besitzer seit 1672 geführt und geachtet.[1]
Max Holländer und Johanna Holländer.
Max Holländer wurde am 23. März 1876 in Bauerbach, Kreis Meiningen Thüringen geboren[2]. Er führte die Kronenapotheke in Meiningen.[3] Am 1. Juli 1907 kaufte er die Hofapotheke in Wiesbaden und nannte sie in Schützenhofapotheke um, in Anlehnung an die damals in der Nähe gelegene Gaststätte „Zum Schützenhof“.
Max Holländers erste Ehefrau war Sofie Holländer. Sie wurde am 7. Juli 1885 als Tochter von Heinrich Weisenbeck und seiner Frau Eugenie in München geboren. Sie war Konzertpianistin.
In Wiesbaden wurden ihre beiden Kinder Stefan (1907) und Else (1909) geboren. Bei der Geburt ihres Sohnes wohhnte die Familie in der Emser Str. 39[4], 1909 in der Langgasse 15, ganz in der Nähe der Apotheke[5]
Die Ehe wurde 1929 geschieden. Sofie Holländer lebte bis zu deren Ausreise 1936 mit ihren Kindern in der Eltviller Straße 21. Dann kehrte sie in ihre Heimatstadt München zurück. Am 6. Februar 1941 flüchtete sie in den Tod, wie viele Juden, denen eine Deportation in den Osten bevorstand. Vor dem Haus in der Eltviller Straße 21 in Wiesbaden erinnert ein Stolperstein an sie.[6]
Laut Chronik seines Sohnes nahm Max Holländer vom ersten Tag an als Oberapotheker am 1. Weltkrieg teil. Er geriet bereits Ende August 1914 in französische Kriegsgefangenschaft und wurde über die Schweiz ausgeliefert. Danach war er wieder bis zum Ende des Feldzuges an der Front. Juden wurde oft vorgeworfen, sie hätten sich vor dem Einsatz als Soldaten gedrückt. Hier ist wieder ein Beispiel, welches das Gegenteil beweist.[7] Laut Entschädigungsakte war Max Holländer von 1900 bis 1908 Beamter beim Deutschen Reich. Sein letzter Titel lautete: „Oberapotheker der Reserve“.
Im Mai 1920 erwarb Max Holländer die Schlossmühle in Heidesheim „für die Summe von 180.000 Papiermark bzw. 15.822 Goldmark[8] Max Holländer gestaltete die abgewirtschaftete Schlossmühle zu einem wahren Juwel. Doch nicht genug damit, dass Max und Johanna Holländer das Heidesheimer Handwerk in wirtschaftlich schwieriger Zeit mit Aufträgen versorgten; auch sonst erwiesen sie sich großzügig: So ließ Max Holländer – wenngleich nicht ganz selbstlos – auf eigene Kosten die Grabenstraße pflastern, auf der ihn sein Chauffeur jeden Morgen nach Wiesbaden und am Abend zurück fuhr. Und in der Weihnachtszeit ging Johanna Holländer mit einem Korb am Arm die Grabenstraße hinunter, um die Kinder zu bescheren.
Am 14. Dezember 1930 heiratete er Johanna Haase, geboren am 4. Mai 1881 in Steele/Ruhr, Kreis Essen. Laut Zeitzeugen war es ein auffallendes Paar, auch äußerlich. Herr Holländer ließ sich mit einem Auto nach Wiesbaden chauffieren und Frau Holländer trug gerne sehr große Hüte. Die Heidesheimer verbanden wohl mit diesem „zugereisten“ Paar so etwas wie „Duft der großen eleganten Welt“ dar.
Die Verfolgung der Familie Holländer begann fast mit dem Antritt der nationalsozialistischen Diktatur. Johanna Holländer berichtete nach Kriegsende, dass aus Bingen kommende Polizeikräfte bereits im Mai 1933 Geld erpressten, das sie auch erhalten hätten. Dann denunzierte sie ihr Chauffeur. Am 12. Juni 1933 ließ der kommissarische Bürgermeister Hans Maison Max Holländer verhaften und in das Konzentrationslager Osthofen[9] bei Worms verbringen. Laut Entschädigungsakte war er dort von Ende Jude bis zum 3. September 1933 interniert. Johanna Holländer wurde bei dem Versuch verhaftet, ihren Mann zu besuchen. Da im KZ nur Männer interniert waren, wurde sie im Osthofener Gefängnis festgesetzt. Nach zehnwöchiger Haft wurde ihnen gestattet, ein Sanatorium in Bad Nauheim aufzusuchen. Ein Prozess gegen das Ehe paar 1933 vor dem Mainzer Landgericht endete 1933 mit Freispruch.[10]
Laut Entschädigungsakte verkaufte Holländer am 1. Oktober 1936 die Schützenhofapotheke 1936 unter Druck. Laut Zeugenaussagen musste die Apotheke „auf Anordnung der nazistischen Regierung aufgegeben werde4n, weil ein jüdischer Apotheker … als unzuverlässig und gefährlich angesehen wurde.“
Die Apotheke übernahm Hermann Etzrodt. Im Hessischen Hauptarchiv Wiesbaden befinden sich viele Dokumente des Finanzamtes Kassel und der Devisenstelle über die Abwicklung der finanziellen Angelegenheiten. Max Holländer konnte nicht mehr über sein Vermögen verfügen. Sein Geld war auf einem Sperrkonto. Wenn er Ausgaben hatte, so z.B. für die geplante Ausreise nach den Philippinen, so musste er für jede Transaktion eine Genehmigung an die Devisenstelle in der Goethestraße in Frankfurt am Main anfragen. Die Diskriminierung verteilte sich auf viele kleine Verwaltungsakte.
Am 10. November 1938, einen Tag nach der Pogromnacht – Max und Johanna Holländer saßen praktisch auf gepackten Koffern. Sie hatten vor, die Schlossmühle zu verkaufen und Heidesheim zu verlassen. Gestapo und Amtsdiener der Gemeinde verschafften sich gewaltsam Zutritt zur Schlossmühle, verhafteten Max Holländer und brachten ihn aufs Rathaus. Dort zwangen Bürgermeister Koch, Gemeinderat und Notar ihn unter Drohungen, seinen gesamten Besitz in Heidesheim der Gemeinde zu „schenken“. Schließlich beugte sich Max Holländer der Gewalt und erklärte: „Ja, ich schenke das Anwesen der bürgerlichen Gemeinde Heidesheim, aber ich tue das, weil die gesamten Verhältnisse in Deutschland nun einmal so liegen.” Ein „Freudscher Versprecher“ entlarvte später protokollarisch die erpresserische Handlung der Gemeindeoberen. Unter der Ziffer 6 heißt es nämlich, “die Erwerber erklären ausdrücklich, dass diese Schenkung vollkommen aus freien Stücken von ihnen vorgenommen worden ist und dass sie in keiner Weise von irgend einer Seite hierzu gezwungen wurden.” Das macht keinen Sinn: Erwerber war die Gemeinde, also Schenkungsnehmerin, die die Schlossmühle erhielt und nicht Max Holländer als derjenige, der die Schenkung vorgenommen hat!
Parteigenosse und Bürgermeister Koch fand nur wenige Stunden nach der erpressten Schenkung grausige Worte. Das damalige Nachrichtenblatt berichtete am 11. November 1938: “Pg. Koch sprach zu der erschienenen Menge (sämtliche Gliederungen der NSDAP, Ortsgruppe Heidesheim und Wackernheim unter Musikklängen zu der Schlossmühle) und erklärte, dass dieses alte Gebäude nunmehr durch rechtskräftigen Schenkungsakt Eigentum der Gemeinde Heidesheim sei… Um 2 Uhr nachts wurde bereits die notarielle Urkunde ausgefertigt … Es sei eine gütige Fügung des Schicksals, dass dieses Bauwerk auf diese Art und Weise, ohne vernichtet zu werden, gerettet wurde, denn was gestern im ganzen deutschen Vaterlande vorgegangen sei, sei nur der Wutausbruch eines Volkes gewesen, das jahrzehntelang von diesen jüdischen Gaunern und Schiebern auf das skrupellosteste ausgebeutet und drangsaliert wurde.“ Jedoch war das Kreisamt Bingen mit der Schenkung nicht einverstanden, danach war mit den “nationalsozialistischen Grundsätzen“ eine Schenkung von Juden nicht vereinbar. So wurde im Rahmen der gesetzlich sanktionierten „Arisierung“ ein Kaufvertrag aufgesetzt und der Familie 1940 nach Abzug aller Kosten und der Judenvermögensabgabe dem Ehepaar Holländer 3930,65 RM auf ein Sperrkonto eingezahlt, auf das sie allerdings kein Zugriff hatten. [11]
Während die Nazis die Aneignung der Schlossmühle und die Vertreibung des Ehepaares Holländer lauthals feierten, war Max zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Bahnhof in Wiesbaden verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht worden. [12] Max Holländer wurde vom 12. Bis zum 27. November 1938 im Konzentrationslager Buchenwald interniert.
Eine Entlassung erfolgte in der Regel nur, wenn der Inhaftierte eine Auswanderung glaubhaft nachweisen konnte. In Wiesbaden wohnte das Ehepaar in der Eltviller Str. 21.[13] Dies scheint die Stadtwohnung der Familie gewesen zu sein. Hier war der Sohn Stefan bis zu seiner Flucht 1936 und auch Else gemeldet. Beide Kinder scheinen nicht verheiratet gewesen sein. Nach der Entlassung war er laut der Gestapo-Datei 1939 in Wiesbaden, gemeldet.[14] Nach dem 2. Weltkrieg strengte Johanna Holländer einen Entschädigungsprozess an, aus dem ein Bericht erhalten ist. Aus ihm gehen Einzelheiten des Schicksals hervor.[15]
Die Familie konnte im letzten Moment den Nazis entkommen. Stefan Holländer ist bis zum 17. November 1936 in der Eltviller Str, 21 in Wiesbaden gemeldet. Er muss also zunächst nach Großbritannien entkommen sein. Dann taucht sein Name wieder auf der Passagierliste der der SS Georgic aus Sounthampton nach New York auf, wo sie am 7. Januar 1937 eintraf.[16] Ein in den USA lebender Cousin, Sam Hollander, hatte ihm laut Passagierliste das Visum vermittelt und für ihn gebürgt.
Else konnte am 10. August 1938 direkt von Hamburg aus auf der SS Washington in die USA entkommen. Am 18. August 1938 erreichte sie New York.[17] Ein Visum erhielt nur, wer jung genug war und für den 4000.- Dollar Bürgschaft hinterlegt werden konnten. Das sind nach heutigem Wert ca. 16.000 Euro. Elsa Holländer hatte das Visum vom amerikanischen Konsulat in Stuttgart erhalten, mit der Nummer QIV 18389. Wahrscheinlich hatte auch für sie der Onkel Sam Holländer gebürgt. Nicht jeder Flüchtende hatte Verwandte in den USA und nicht alle konnten diese Summen aufbringen. Geld aus Deutschland durfte man nicht mitnehmen.
Wahrscheinlich hatten sich auch die Eltern um ein Visum bemüht und standen auf der Warteliste. Für ältere Menschen war es schwieriger, aus Deutschland heraus zu kommen. Max und Johanna Holländer reisten in die Philippinen aus. Sie verließen Deutschland am 28. Mai 1939. [18]
Nach einem Aufenthalt von knapp zwei Jahren erreichten sie USA dann von Westen her, auf der SS President Taylor. Aus Manila kommend trafen sie am 18. Juli 1941 in San Francisco ein. In Manila hatten sie am 26. März 1941 ein Visum mit der Nummer QIV-NP22468 und QIV-NP 22469 erhalten. Als Beruf ist bei Max Holländer „retired“ (im Ruhestand) eingetragen und darüber handschriftlich „Pharmacist, Chemist“.[19] Die Familie wird die Wiedervereinigung gefeiert haben.
Max Holländer lebte nicht lange in der Freiheit. Er starb bereits am 10. Dezember 1941 in Manhattan, New York im Alter von 65 Jahren[20] Im Aufbau, einer deutschsprachigen Zeitung der deutschen Juden im Exil, wurde sein Tod angezeigt mit folgendem Nachruf:
„Nach unerschrockenen, harten Kämpfen um seine Freiheit und nachdem er zwei friedvolle Jahre in Manila verbracht hatte, verschied heute, wenige Monate nach seiner Ankunft hier, sanft nach langem Leiden ohne jede Klage mein geliebter Mann, unsere treusorgender guter Vater, Großvater, Bruder, Schwager und Onkel, der Apotheker Max Holländer, ehemaliger Besitzer der Schützen Apotheke in Wiesbaden. Es unterschrieben Johanna Holländer, die 310 Riverside Drive wohnte, wohl der letzte Wohnsitz des Ehepaares. Dr. Stefan Holländer wohnte in der Seventh Avenue Nr. 56 und seine Schwester, die sich nun Elsie nannte, in der 98. Straße West. Simon Holländer, wahrscheinlich der Bruder von Max und Hugo Holländer und Familie. Seine Leiche wurde eingeäschert und nach Manila überführt. Auf den Philippinen scheint er eine gute Zeit verbracht zu haben. [21]
Der Weg Johanna Holländer führte zurück nach Wiesbaden. Sie klagte auf Entschädigung für das ergangene Unrecht. Sie stellte Rückerstattungsanträge auf das Wohnhaus und die Schützenhofapotheke, Langgasse 11 in Wiesbaden, auf das Wohn- und Geschäftsgrundstück Wiesbaden, Langgasse 2/4, Geschäftsanteile bei der Firma Bernhardt, der Häuser in der Eltviller Str. 21 gehörten und die Rückerstattung der Judenvermögensabgabe und Reichsfluchtsteuer und die Schlossmühle Heidesheim. Über einen gerichtlichen Klageweg schaffte es Johanna Holländer, ihren Besitz von der Gemeinde Heidesheim in einem Vergleich zumindest ansatzweise zurückzubekommen (100.000 DM für ein inzwischen völlig marodes Gebäude). Ihre Forderung wurde nie ganz erfüllt: „Ich beanspruche die Rückgabe der Schlossmühle, die Rückgabe des ganzen Besitzes in dem Zustande, in dem wir alles verlassen mussten, ferner den Schaden und den Ausfall durch die Benutzung des Anwesens respektive den Mietausfall nebst aller anderen Schäden.“[22]. Sie erhielt eine Entschädigungsrente für „Schaden am Leben“. Das Gerichtsurteil zur Schlossmühle erlebte sie selbst nicht mehr. Kurze Monate davor verstarb sie – aus den USA zurückgekehrt – in Wiesbaden am 12. Februar 1965.
Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen in Frankfurt/Main und die Organisation Irgun Olej Merkaz Europa in Tel Aviv/Israel wurden am 29. Januar 1969 je zur Hälfte Erben von Johanna Holländer.
Heute können wir den beiden rechtmäßigen Besitzern der Schlossmühle und vertriebenen, geschundenen Max Holländer und Johanna Holländer das Anwesen nicht zurückgeben. Was uns bleibt ist, ihnen wenigstens die Würde zurückzugeben, indem wir ihre Namen fest in dem Boden vor ihrer Wohnstatt einlassen. Wir verneigen uns vor ihnen.
Am 11. Juni 2022 erschien im Wiesbader Kurier ein Artikel zum 350. Bestehen der Schützenhofapotheke. Das Schicksal von Max Holländer wird nicht erwähnt. Dass die abgedruckten Fotos Von Dr. Stefan Holländer stammten, war den heutigen Besitzerinnen wohl auch nicht bekannt.
Der Artikel entstand mit der freundlichen Mithilfe von Karl Urhegyi und basiert auf der Rede von Jochen Schmidt zur Verlegung der Stolpersteine im März 2012.
[1] Max Holländers Sohn Dr. Stefan Holländer verfasste nach 1932 eine Werbebroschüre, aus der viele der nachfolgenden Daten und auch das Foto von der Außenfassade der Apotheke übernommen wurden. (Quelle: HHStAW 1135/63) Der spätere Besitzer Hans-Joachim Strumpf hat sich ihrer für seine Broschüre wohl bedient, ohne die Quelle anzugeben.
[2] Siehe Personen-Datenblatt Max Holländer HHStAW I1603
[4] Siehe Personen Datenblatt Stefan Holländer Stadtarchiv Wiesbaden I3094
[5] Siehe Personen Datenblatt Stefan Holländer Stadtarchiv Wiesbaden I3095
[6] Siehe URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Wiesbaden-Rheingauviertel
[7] Bisher versprachen nur die linken Liberalen, die SPD und Zentrumsmitglieder der jüdischen Minderheit eine echte Gleichberechtigung. Viele Juden hatten aber ein Problem mit diesen Parteien. Diese Parteien wurden von der Monarchie und den Konservativen als subversive Kräfte angesehen. Wer sich in ihnen engagierte, wurde als subversiv und oppositionell eingeordnet. Die Regierungen erhofften sich durch die Beteiligung der Juden am Krieg die Stärkung der nationalen Einheit. Es war also eine win-win-Situation. So lässt sich erklären, dass sich viele Juden freiwillig zum Kriegsdienst meldeten. Die Konservativen Kräfte waren gegen Zugeständnisse an die Juden. Juden wurden als Kosmopoliten bezeichnet, für sie war es das Gegenteil von patriotisch. Sie hatten Angst, sie müssten im Reichstag Zugeständnisse machen. Durch die Verlängerung des Krieges gewann die Rechte. Die Juden wurden nach historischen Vorbildern zum Sündenbock erklärt. Die wirkungsvollste Maßnahme war die „Judenzählung“ vom Oktober 1916. Das preußische Kriegsministerium ordnete sie an. Es sollte geprüft werden, ob sich die Juden der Wehrpflicht entzögen. Die Ergebnisse der Judenzählung machten böses Blut und wurden nie veröffentlicht. Sie gingen in den Wirren des 2. Weltkriegs unter (siehe: Pulzer, Peter: Der Erste Weltkrieg. In: Lowenstein, Steven M.; Mendes-Flohr, Paul; Pulzer, Peter , Richarz, Monika: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4 Bde., Bd.3, Umstrittene Integration 1871-1918, S. 362ff.) Die Judenzählung hatte einen verheerenden Effekt auf die jüdische Bevölkerung Deutschlands und beeinträchtigte die Hoffnungen der jüdischen Minderheit erheblich.
[8] Siehe auch die gut dokumentierte Arbeit von Hermann Fröhlich: Die Schlossmühle in Heidesheim am Rhein. [https://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/aufsaetze/froehlich-schlossmuehle-heidesheim.html].
Ab 1920 ist Max Holländer im Feuerversicherungsbuch als Besitzer der Schlossmühle geführt. (Quelle: HHStA DA C6, Nr. 962, 964-966: Anlage 1911, Beendigung 1912; Fortführung bis ca. 1978). Laut Heidesheimer Melderegister zog er mehrmals zwischen Heidesheim und Wiesbaden hin- und her. Er hatte wohl eine Wohnung über der Apotheke oder in der Eltviller Staße 21 und in Heidesheim. In den 1920er Jahren könnte es noch Reisebeschränkungen gegeben haben, die in Zusammenhang mit der französischen Besetzung des Rheinlandes standen. Der Kaufpreis wären heute ca. 90.000 Euro. Sie Umechnungstabelle https://www.bundestag.de/resource/blob/459032/1d7e8de03e170f59d7cea9bbf0f08e5c/wd-4-096-16-pdf-data.pdf [11.Juni 2022]
[9] In der Gedenkstätte Osthofen liegt nur der Einlieferungstermin vor, der 11. Juli 1933 [Auskunft vom 28.06.2022].
[10] Im Rahmen der Restitutionsansprüche hat Johanna Holländer den Aufenthalt im Osthofener Gefängnis geschildert (HHStAW Bestand 518 Nr. 17006 Entschädigungsakte)
[11] Siehe Fröhlich S. 30
[12] Laut Meldekarte Heidesheim Abmeldung zum 10. November 1938 nach Wiesbaden. Im Archiv in Arolsen liegt eine Transportliste mit Juden, die am 12. November 1938 von Frankfurt aus nach Buchenwald deportiert wurden, Personenblatt Stadtarchiv Wiesbaden, Entschädigungsakte Hessisches Hauptarchiv Wiesbaden.
[13] Siehe Personen-Datenblatt Max Holländer Gestapo Datei 1939, Stadtarchiv Wiesbaden I1603
[14] Siehe Personen-Datenblatt Max Holländer Stadtarchiv Wiesbaden I1603
[15] HHStAW Bestand 518 Nr. 17006. Siehe Fröhlich, 27ff, der sie Ereignisse zusammenfasst.
[16] Passagierliste siehe https://www.myheritage.de/research/collection-10512/ellis-island-und-andere-new-york-passagierlisten-1820-1957?itemId=19616029-&action=showRecord&recordTitle=Stefan+Hollender [12. Juni 2022]
[17] Passagierliste siehe https://www.myheritage.de/research/collection-10512/ellis-island-und-andere-new-york-passagierlisten-1820-1957?itemId=21718070-&action=showRecord&recordTitle=Else+Hollaender
[18] Siehe Personen-Datenblatt Max Holländer, Stadtarchiv Wiesbaden I1603
[19] https://www.myheritage.de/research/collection-10881/passagierlisten-von-kalifornien-1893-1957?itemId=1584033-&action=showRecord&recordTitle=Johanna+Hollander
[20] https://www.myheritage.de/research/collection-10734/new-york-city-sterberegister-1862-1948?s=574206361&itemId=4737017-&action=showRecord&recordTitle=Max+Hollander
[21] Zur Todesanzeige: https://freepages.rootsweb.com/~alcalz/genealogy/aufbau/1941/obitj7a51s16.gif
[22] Aussage von Johanna Holländer, siehe Karl Urhegyi, URL [https://www.regionalgeschichte.net/rheinhessen/heidesheim/kulturdenkmaeler/schlossmuehle-in-heidesheim.html] 10.06.2022
Stolperstein Rosa Gruner
Binger Str. 1
Rosa Gruner wurde am 23. April 1891 in Heidesheim geboren. Die frühesten Vorfahren lassen sich bis ins 18. Jahrhundert nachweisen. Ihr Vater Alexander Ehrenstamm, geboren am 10. Mai 1859, führte laut einer Anzeige aus dem Jahr 1908 einen „Specereiladen“ (einen kleinen Lebensmittelladen) wohl aber auch Kurzwaren und Stoffe. Er war ein angesehener Heidesheimer Bürger, der in einigen Vereinen aktiv war: So war er Mitbegründer des Gesangvereins „Einigkeit“, der heute unter dem Namen „Sängervereinigung“ bekannt ist. Weiterhin war er Mitglied im Turnverein und der freiwilligen Feuerwehr. Er war der letzte jüdische Familienvorstand und verstarb am 13. März 1932 noch vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Heidesheim bestattet (>>siehe Grabstein). Alexander Ehrenstamm führte den Laden über 40 Jahre.
Rosa Ehrenstamm heiratete am 5. September 1926 in Heidesheim den Witwer Benno Gruner aus Ingelheim. In erster Ehe war Benno Gruner mit Minna Rosam verheiratet. Laut Einwohnermeldeamt Ingelheim kam Benno Gruner zusammen mit seiner ersten Frau Minna, geb. Rosam am 10. September 1914 aus Lissa, Posen, heute Leszno, Polen. Er und weitere Angehörige zogen zu und waren somit eine der wenigen ostjüdischen Familien hier. Benno Gruner betrieb wahrscheinlich seit seinem Zuzug am 10. September 1914 eine Manufaktur für Weiß- und Wollwaren in der Binger Straße 2 in Ingelheim. Das Geschäft wurde laut einem erhaltenen Briefkopf 1902 gegründet, möglicherweise in Gau-Algesheim. Gründer war Leopold Rosam, ein Bruder von Benno Gruners erster Frau Minna. Am 25. September 1914 wurde es laut Eintrag in Gewerberegister in Nieder-Ingelheim angemeldet. Leopold Rosam starb 1916 im 1. Weltkrieg als Kriegsgefangener in einem Lazarett in Coutances/Manche in Frankreich. Er ist auf dem Soldatenfriedhof in Wervicq Sud bestattet.
Minna Gruner starb am 17. Mai 1926 in Nieder-Ingelheim im Alter von 45 Jahren laut Todesanzeige nach kurzer und schwerer Krankheit. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in der Hugo-Loersch-Straße bestattet. Benno Gruner heiratete in zweiter Ehe am 5. September 1926 Rosa Ehrenstamm aus Heidesheim. Es ist davon auszugehen, dass das Paar in der Binger Straße 2 in Nieder-Ingelheim lebte. Rosas Vater Alexander Ehrenstamm starb am 13. März 1932. Laut Einwohnermeldeamt Ingelheim zogen Benno und Rosa Gruner am 27. Mai 1932 nach Heidesheim. Das Geschäft in Nieder-Ingelheim wurde laut Eintrag im Gewerberegister am 25. Mai 1932 aufgelöst. Dies steht wohl in Zusammenhang mit dem Tod von Rosas Vater, der das Geschäft in Heidesheim führte und das sie nun zusammen mit ihrem Mann Benno übernahm. Ein Jahr später suchte die Familie ein neues Unglück auf. Benno Gruner starb am 10. April 1933 im Alter von 53 Jahren. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Heidesheim bestattet. Bemerkenswert ist, dass er kurz nach dem Beginn des Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 starb. Benno Gruner hat sicher die Gefahren und wahrscheinlich auch Diskriminierungen der Juden noch mitbekommen, die gleich seit der Machtübergabe an die Nationalsozialistische Diktatur im Januar 1933 begannen. Rosa Gruner führte das Geschäft weiter und wandelte es in ein Kurz- und Wollwarengeschäft um. Das war sehr mutig, da der Umsatz in den jüdischen Geschäften durch den Boykott seit 1933 rapide zurückging. Aus den Gemeindeprotokollen von Heidesheim geht hervor, dass sie 1935 um Nachlass bei der Gewerbesteuer bat. Dieser wurde ihr nicht gestattet, weist aber darauf hin, dass das Geschäft schlecht ging.
Das Novemberpogrom ändert alles
Während der Novemberpogrome am 10. November 1938 zogen die braunen Fackelträger samt aufgeputschten Heidesheimer Bürgern zu dem jüdischen Laden in der Binger Straße 1 und plünderten das Geschäft. Wilhelm Stein, der Neffe von Rosa Gruner, der nach 1945 als einziger aus der Familie nach Heidesheim zurückkehrte und der das Haus erbte, schrieb 14. September 1955 in den Antrag auf Wiedergutmachung: „Das Wohn- und Geschäftshaus wurde im Zusammenhang mit der Judenaktion im November 1938 unter Duldung der Polizeibehörden von aufgehetzten Personen gestürmt, die Wohnungseinrichtung, die Ladeneinrichtung demoliert und auf die Straße geworfen. Der Warenbestand wurde zum Teil geplündert und zum Teil auch vernichtet. Das Ladengeschäft wurde gewaltsam geschlossen. Meine Tante musste anschließend Heidesheim verlassen und verzog nach Stuttgart.“
Aus der Aufzählung der verlorengegangenen Gegenstände geht u.a. hervor, wie ein Haus damals eingerichtet war:
Aufstellung über Hausrat und Möbel:
1.) Ladeneinrichtung:
1 grosse Verkaufstheke, drei Warenregale, 1 grosser Spiegel,
zwei Beleuchtungskörper, 1 Kasse und diverse kleinere Gegenstände. Wert geschätzt etwa 1000,- RM
2.)Wohnzimmer:
1 Tisch, vier Stühle, 1 Schrank, 1 Couch, 2 Sessel, 1 Radioapparat,
1 Lampe, 1 Nähmaschine, 1 Ofen, 1 Spiegel, 1 Wanduhr, div. Bilder .
Wert geschätzt etwa 1800,- RM
3.) Küche:
2 Küchenschränke, 1 Kohlenherd, 1 Gasherd, Notwendiger Küchengeschirr
Porzellan, Beleuchtungskörper, Läufer Linoleum pp.
Wert geschätzt etwa 2000,- RM
4.) Schlafzimmer:
2 kompl. Betten, Bettvorleger, Vorhänge, 1 Kleiderschrank, 2 Nacht- schränkchen, 1 Waschtisch mit Marmorplatte und Spiegel, 1 Lampe und
2 Nachttischlampen
Wert geschätzt etwa 3200,- RM
5.) Esszimmer:
1 Teppich 3,5 x 4,- m, 1 Büffet, 1 Kredenz, 1 Ausziehtisch, 6 Polster-
stühle, 2 Brücken, 1 grosser Spiegel, 1 Spinnrad, 1 Ofen, Gardinen,
Uebergardinen und Store,
Wert geschätzt ca. 4000,- RM
—–
Carl Joseph Dillmann, der nach dem Krieg Bürgermeister in Heidesheim wurde, schrieb am 23. Oktober 1962 an das Landesamt für die Wiedergutmachung Stuttgart:
Betr. Entschädigungssache Rosa Gruner (…)
Bezug: dortiges Schreiben vom 16. Oktober 1962
In Beantwortung der o.a. Anfrage teile ich mit, daß mir als nächstem Nachbar der Frau Rosa Gruner die Vorkommnisse der Kristallnacht 1938 aus eigener Wissenschaft genau bekannt sind. Die von Herrn Wilhelm Stein eingereichte Aufstellung der in Verlust geratenen Wohnungs- und Ladeneinrichtung, sowie die angegebenen Werte entsprechen den Tatsachen. Die Schlaf- und Eßzimmereinrichtung, sowie die Küche, hat Frau Gruner bei ihrer Verheiratung im Jahre 1926 neu angeschafft, die übrigen Möbel hat sie von ihren Eltern übernommen. Die Ladeneinrichtung war ebenfalls neu angeschafft. Über das Vorhandensein einer Briefmarken. Und Münzsammlung kann ich keine Angaben machen, da mir dies nicht bekannt ist. Dies dürfte auch nur den nächsten Angehörigen bekannt gewesen sein, von denen außer Herrn Stein niemand mehr am Leben ist.
Die gesamte Wohnungs- und Ladeneinrichtung, sowie sämtliche Fenster und Türen wurden bei der Judenaktion 1938 an dem fraglichen Tag von fremden SA-Leuten, die mit Fahrzeugen hierhergekommen waren, zusammengeschlagen und zerstört, sowie Bettzeug angesteckt und auf der Straße verbrannt. Aus dem Warenlager wurden Waren in dem von Herrn Stein angegebenen Wert zum Teil vernichtet oder unbrauchbar gemacht, zum Teil geplündert. Der noch vorhandene, brauchbare geringe Rest wurde von Frau Gruner in ihrer Notlage zu einem ganz niedrigen Betrag, der mir in der Höhe nicht bekannt ist, an die Fa. J. Struth in Ingelheim verkauft, um bei ihrem Weggang von Heidesheim wenigstens etwas Geld zu besitzen. Frau Rosa Gruner lebte von ihrem Textilwarengeschäft, das durch seine besonders günstige Lage in Ortsmitte (am Rathaus) gut frequentiert war, in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen. Das Geschäft bestand schon unter den Eltern der Frau Gruner und den Vorfahren als Kolonialwarenhandlung und wurde von Frau Gruner in ein Textilwarengeschäft umgewandelt.
Eine ähnliche Maßnahme wurde am selben Tag gegen den jüdischen Besitzer der Schloßmühle (…) Max Holländer durchgeführt (…)
Ich hoffe, mit diesen erschöpfenden Angaben gedient zu haben.
Dillmann, Bürgermeisteramt
Karl Ziener bestätigt die Aussagen:
„Vorstehende Angaben werden von mir in vollem Umfang bestätigt. Ich war damals als Gemeindeobersekretär bei der Gemeindeverwaltung Heidesheim beschäftigt und habe die Vorgänge von der dem Hause der Frau Gruner gegenüberliegenden Bürgermeisterei aus genau beobachtet. Nach der Aktion habe ich mit Frau Gruner in ihrem Hause gesprochen, woselbst ich mich von dem Zustand des Hauses und der zerstörten Einrichtung persönlich überzeugen konnte. Über das Vorhandensein einer Briefmarken- und Münzensammlung kann ich ebenfalls keine Angaben machen.“
Zeitzeugen berichteten, dass die entsetzte und völlig verängstigte Rosa Gruner Hilfe in dem gegenüberliegenden Rathaus gesucht hätte. Aber dort öffnete man ihr nicht die Tür und so muss sie völlig verstört, wenige Stunden nach dem Pogrom die Koffer gepackt haben und die Flucht nach Stuttgart angetreten haben.
Laut Bescheinigung Gemeindeverwaltung Heidesheim vom 25. Januar 1956
wurde sie am 15. November 1938 in Heidesheim polizeilich abgemeldet nach Stuttgart, Hölderlinplatz 4. Dort lebte ihre Cousine Bertha Sauerbach, geb. Stein mit ihrem Sohn Alfred. Es handelt sich um eine Tochter des Heidesheimer Weinhändlers Max Stein (1839-1902) und seiner Frau Rosalia, geb. Ehenstamm (1848-18859. (siehe Stolpersteine in der Römerstaße 19 link einbinden). Wahrscheinlich flüchtete Rosa Gruner zunächst dort hin, bis sie eine Bleibe in der Gutbrodstraße 89 (Parterre) gefunden hatte.
In der Wiedergutmachungsakte finden sich noch weitere interessante Details:
Stadt Stuttgart Amt für öffentliche Ordnung 18.01.1956
Rosa Gruner
In den Adressbüchern der Stadt Stuttgart von 1940 und 1941 ist sie jedoch als wohnhaft in Stuttgart, Gutbrodstraße 89 aufgeführt.
(Anm: Die Hauptkartei des Einwohnermeldeamtes wurde im Jahre 1944 durch die Kriegsereignisse zerstört).
Finanzamt Bingen 23.09.1955
Herrn Franz Michell, Helfer in Steuersachen, Ingelheim /Rhein
Betr.: Ww. Benno Gruber. Rosa, geb. Ehrenstamm, Heidesheim
Bezug: Ihre Schreiben vom 20.09.1955
Die Unterlagen über die Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe sind vernichtet und können nicht mehr rekonstruiert werden. Auch fehlen Unterlagen über Umsätze in den gewünschten Zeiträumen. Ich bedauere, Ihnen keine andere Auskunft geben zu können.
Im November 1938 zog sie nach Stuttgart. Dort lebten auch ihre Cousinen Helena Stein und Berta Sauerbach, geb. Stein mit ihren Sohn Alfred, Töchter von Max und Rosalia Stein, siehe Stolpersteine in der Römerstaße 19. Vor dort aus wurde sie deportiert:
Yad Vashem in Jerusalem hat die Zugfahrt in den Tod dokumentiert:
Deportation und Ermordung
„Ab dem 27. November 1941 sollten alle zur Deportation vorgesehenen Juden am Stuttgarter Killesberg in einem der Gebäude am Gelände der ehemaligen Reichsgartenschau, welches nun als Sammellager diente, versammelt werden. Sie mussten in der ehemaligen „Ehrenhalle des Reichsnährstandes“ warten. Die 1.000 Personen mussten dort unter entsetzlichen hygienischen Umständen bis zu drei Tage und Nächte verbringen und schliefen in acht Reihen mit je 125 provisorischen Betten.
Im Sammellager Killesberg ließ die Stuttgarter Stadtverwaltung einen Propagandafilm anfertigen. Die erste Deportation wurde noch als „Umsiedlung“ bezeichnet, und die Deportierten durften Bau- und Küchengeräte sowie Verpflegung mitnehmen. Die Enge im Sammellager ist zu sehen, aber es sollte der Eindruck einer geordneten Auswanderung erweckt werden. Das im Film gezeigte Gepäck wurde den Juden in Riga aber nicht ausgefolgt.
Für den Transport der Juden nach Riga bestellte die Gestapo bei der Reichsbahn einen Zug, welcher unter der Nummer Da 33 bereitgestellt wurde. Am frühen Morgen, gegen 3 Uhr, des 1. Dezembers 1941 wurden die Juden zum Nordbahnhof gebracht, der Fußmarsch über den Eckartshaldenweg betrug ca. 2,5 Kilometer. Die Abfahrt erfolgte zwischen 8 und 9 Uhr morgens. Die Fahrt in überfüllten Passagierwaggons dritter Klasse nach Riga dauerte drei Tage, Ankunft am Bahnhof Skirotava war am 4. Dezember. Während des Transportes wurden die Juden von Gestapobeamten bewacht.
Die Württemberger Juden kamen zuerst nicht in das Rigaer Ghetto, da die SS mit den Erschießungen der baltischen Juden noch zugange war, sondern in das Gut Jungfernhof, 1500 m vom Ankunftsbahnhof entfernt. …
Am 26. März 1942 wurden im Wald Bikernieki bei Riga 1.600 „arbeitsunfähige“ Erwachsene und Kinder, darunter alle Mütter mit ihren Kindern, erschossen. Unter ihnen befanden sich auch mehrere Hundert Juden aus diesem Transport.“ Wahrscheinlich auch Rosa Gruner, Helena Stein und Berta Sauerbach, geb. Stein.
Von dieser ersten Deportation aus Stuttgart überlebten 43 Personen, davon sind fünf Personen kurz nach Kriegsende verstorben.
Auf ihrer Heiratsurkunde vom Standesamt Ingelheim ist vermerkt, dass sie laut Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 25. November 1947 zum 27. November 1941 für tot erklärt wurde. Das Datum ist der Beginn der Sammlung der Juden auf dem Killesberg in Stuttgart. Wahrscheinlich wurde der Termin deshalb vom Amtsgericht gewählt. (Weitere Details zur Deportation siehe unter: Yad Vashem, Jerusalem Zugfahrten in den Tod. Yad Vashem
Rosa Gruner wurde 50 Jahre alt. Auf der Flucht vor den menschverachtenden Ideologien eines wahnwitzigen Nationalsozialismus musste sie schließlich doch ihr wertvolles Leben lassen und wurde unter menschunwürdigsten Bedingungen in dem Ghetto von Riga ermordet.
Die meisten Familienangehörigen der Familien Ehrenstamm/Stein hatten bereits vor 1933 Heidesheim verlassen, die meisten nach Frankfurt am Main aber auch nach Berlin. Nur Alexander Ehrenstamm blieb und organisierte das Heidesheimer jüdische Leben. Nur Wilhelm Stein kehrte nach 1945 zurück. Zum 01. Mai 1946 meldete er einen Textilhandel in der Binger Str. 1 an, also dem Geschäft von Alexander Ehrenstamm und später seiner Tochter Rosa Gruner. Er wohnte zu diesem Zeitpunkt in der Bahnhofstr. 2.
Für Tot erklärt
Um das Erbe antreten zu können, brauchte Wilhelm Stein eine Bescheinigung, dass seine Tante gestorben war. In Fällen wie dem von Rosa Gruner und ihren Cousinen war das nicht so einfach, da ihre Ermordung nicht dokumentiert war bzw. die Dokumente nicht erhalten sind. Deshalb gibt es die Prozedur des Für-Tot-Erklären. In diesem Fall hat Wilhelm Stein dies angestrengt. Das Amtsdeutsch ist so verquer, dass es hier wiedergegeben wörtlich wiedergegeben wird.
Amtsgericht Stuttgart.
Beschluss vom 11. August 1947.
GR 2966 / 47
I. In der Aufgebotssache zum Zwecke der Todeserklärung der
Rosa G r u n e r , geb. Ehrenstamm,
wird A u f g e b o t s t e r m i n bestimmt
auf Dienstag, den 25. Nov. 1947, 10 Uhr
vor dem Amtsgericht Stuttgart, Olgastr.6, III.
Stock, Zimmer 348
II. Es wird folgendes Aufgebot erlassen:
Wilhelm Stein, geb. 3.1.1914, wohnh. In Heidesheim, Bingerstr.1.
vertr. durch Notar Josef Gödecker, in Ingelheim a.Rh. Rheinstr. 2
hat das Aufgebot zum Zwecke der Todeserklärung der
Frau Rosa Gruner, geb. am 23.4.1891 in Heidesheim, zuletzt wohnhaft in Stuttgart-W. Gutbrodstr. 89/ Part., wahrscheinlich umgekommen nach ihrer am 27.11.1941 nach Riga erfolgten Deportation in ein KZ., beantragt.
Die Verschollene wird aufgefordert, sich bis zum dem auf Dienstag, den 25. Nov.1947, 10 Uhr vor dem Amtsgericht Stuttgart, Olgastr.6/ III. Zi. 348 anberaumten Aufgebotstermin zu melden, widrigenfalls sie für tot erklärt werden kann.
Alle, die Auskunft über die Verschollene geben können, werden aufgefordert, dem Gericht, spätestens im Aufgebotstermin, Auskunft zu geben.
(kleiner Beleg vom 29. August 1947 für Bezahlung von 19.20 RM vom Staatsanzeiger für Baden-Württemberg für die Veröffentlichung GR 2966 / 47 Todeserklärung Gruner in Höhe von 19.20 RM)
Wie aus einem Schreiben an das Regierungsbezirksamt für Wiedergutmachung und kontrollierte Vermögen in Mainz, Walpodenstraße, vom 3. November 1950 hervorgeht, erhielt Wilhelm Stein erhielt das Haus in der Binger Straße 1 zurück. Er schrieb: „… Am 1.6.1945 konnte ich nach Heidesheim zurückkehren und wurde mir 1949 das Wohn- und Geschäftshaus durch die Gemeinde Heidesheim rückübereignet. Nachdem ich das Haus unter Aufwendung von ca.16.000 DM. wieder in einen brauchbaren Zustand versetzt hatte, konnte ich am 21.8.1948 das Textilwarengeschäft wieder eröffnen und weiterführen.“ Vom Landesamt für die Wiedergutmachung erhielt er am Stuttgart 28. November 1962 eine Entschädigung von 14.500.- DM. Das Geld reichte nicht einmal, um den Kredit zu bezahlen, den Wilhelm Stein zur Instandsetzung des Hauses aufgenommen hatte. Er führte das Geschäft bis zum 31. Dezember 1984. Dann gab er es aus Altersgründen auf. Er starb am 23. Juli 1994 im Krankenhaus in Ingelheim.
Noch bis vor wenigen Jahren existierte der kleine Laden in der Binger Straße 1 weiter. Heute ist dort eine Verkaufsstelle der VOG.
Klaus Dürsch, Oktober 2022 Dank an Jochen Schmidt, das Stadtarchiv Ingelheim und das Archiv Im Lamm in Heidesheim und Jennifer Lauxmann-Stöhr und Ute Wohlrab für die Recherchen in Stuttgart.
Stolperstein Rosalia Bär
Rosalia Bär, geb. Stein wurde in diesem Haus in der Oberdorfstraße 10 geboren und verbrachte in Heidesheim ihre Kindheit. Wir wissen bisher nicht viel über ihre Kindheit. Sicher hat sie des Öfteren mit ihren Cousinen Helena Stein und Berta Sauerbach gespielt – für die hier in der Römerstraße schon Steine einge-setzt sind und auch mit der Rosa Gruner (Tochter von Alexander Ehrenstamm) in der Binger Straße. Diese Generation jüdischer Kinder litt besonders unter der Gewaltherrschaft und viele von ihnen wurden ermordet.
Sie war das vierte von sechs Kindern von des Weinhändlers Adolf Ehrenstamm und seiner Frau Sara, geb. Strauss. In der Regel kauften die Weinhändler das Produkt vor Ort ein und vermarkteten es in ganz Deutschland.
So wie viele der rheinhessischen Landjuden zog es auch den größten Teil der Ehrenstamms am Anfang des 20. Jahrhunderts in die Städte. Wir treffen einen großen Teil der Heidesheimer Ehrenstamms in Frankfurt wieder. So auch Rosa-lia Bär. Sie heiratete dort am 24. Dezember 1908 den Kaufmann Hermann Bär aus Oberlahnstein. Von ihm wissen wir weiter nichts. Auch von Rosalia Bär we-nig. Wir finden ihre Spur erst wieder in Berlin.
Von dort aus wurde sie im Alter von 67 Jahren zunächst ins Ghetto Theresien-stadt und von dort nach Ausschwitz deportiert. Das Schicksal von ihrem Mann ist uns nicht bekannt.
Es ist davon auszugehen, dass Rosalie Bär unter denen war, die am 10. Juli 1944 in den Gas-kammern von Auschwitz ermordet wurden.
Yad Vashem hat die Transporte in die Konzentrations- und Vernichtungslager dokumentiert. So können wir den weiteren Weg von Rosalia Bär nachvollziehen.
Der Transport I/74 fuhr am 30. Oktober 1942 vom Anhalter Bahnhof in Berlin ab und kam am frühen Abend desselben Tages in Theresienstadt bei Prag an. Der Transport bestand aus 100 Juden, darunter 54 Frauen und 46 Männer. Das Durchschnittsalter der Deportierten be-trug 57,9 Jahre. Der Jüngste der Deportierten war vier Jahre alt und der Älteste war 92 Jahre alt. Vier der Deportierten waren unter zwölf, vier waren im Alter zwischen 13 und 18, zehn waren zwischen 19 und 45 Jahre alt, 22 waren zwischen 46 und 60, und 58 waren zwischen 61 und 85 Jahre alt. Zwei der Deportierten waren über 85 Jahre alt.
Den zur Deportation eingeteilten Juden wurde befohlen, selbst im Sammellager Grosse Ham-burger Strasse zu erscheinen oder sie wurden von der Gestapo aus ihren Wohnungen geholt. In der Regel erschienen einige Gestapomänner, Mitglieder des Judenreferates, um die zur De-portation bestimmten Juden festzunehmen. Die Juden mussten vor ihrer Deportation alle Steu-ern und Abgaben bezahlt haben und ihre Wohnungen sauber übergeben. Das Gepäck und die Wohnung wurde von den Gestapoleuten durchsucht, wobei oft Wertgegenstände konfisziert wurden. Anschliessend wurden die Wohnungen versiegelt. Die Gestapomänner wurden von jüdischen Aufsehern begleitet, welche den zur Deportation eingeteilten Juden beim Verpacken und Tragen ihrer Habseligkeiten halfen. In Lastwagen wurden die Juden zum Sammellager gefahren. Dies fand für gewöhnlich einen Tag vor der Deportation statt. Im Sammellager wurden die Juden gezwungen, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der sie den Staat zum Ein-zug ihres Vermögens bevollmächtigten.
Wie in vorherigen Transporten wurden sie am Tag der Deportation zwischen zwei und drei Uhr morgens geweckt, und bekamen ein einfaches Frühstück, das von Angestellten der jüdi-schen Gemeinde zubereitet worden war. Gegen vier Uhr verliessen sie das Gebäude in der Grossen Hamburger Strasse. Zu Fuss mussten sie einige hundert Meter zum Monbijouplatz marschieren, wo ein Strassenbahnwagen der BVG (Berliner Verkehrsbetriebe) bereitstand. Um fünf Uhr waren sie an Bord der Strassenbahn, welche die Deportierten zum Anhalter Bahnhof in der Schöneberger Strasse brachte, wo sie etwa um 5h15 eintrafen. Durch einen Seiteneingang wurden sie zu Gleis 1 gebracht und mussten in zwei alte Waggons dritter Klas-se einsteigen. Diese waren bei der Reichsbahn bestellt worden. Die Waggons waren an einen fahrplanmässigen Personenzug angehängt, der den Bahnhof gegen sechs Uhr früh nach Dres-den verliess. Dort hielt der Zug für einige Stunden. Dann wurden die Waggons an einen ande-ren fahrplanmässigen Zug nach Prag angehängt.
Die Route führte die Deportierten von Berlin nach Dresden und den Fluss Elbe entlang nach Decin (Tetschen), Usti nad Labem (Aussig) und schliesslich nach Bohusovice (Bauschowitz). Sie mussten am Bahnhof Bohusovice aussteigen und wurden dort von SS-Personal und der tschechischen Gendarmerie in Empfang genommen. Anschliessend wurden sie gezwungen, mit ihrem Gepäck die ca. drei Kilometer nach Theresienstadt zu marschieren. Nicht gehfähige Deportierte wurden mit Lastwagen ins Ghetto gefahren.
In den Büchern des Ghettos wurde der Transport mit der Nummer I/74 verzeichnet, die römi-sche Ziffer I bezieht sich auf Berlin. Die in der Mehrheit älteren Deportierten, welche in die-sen Transporten ankamen, starben aufgrund der Mangelernährung und der im Ghetto grassie-renden Krankheiten oft schon in den folgenden Monaten. Andere wurden später in Vernichtungslager in den Osten gebracht, wo sie ermordet wurden.
Nach Angaben der Historikerin Rita Meyhöfer sind 16 Überlebende dieses Transportes be-kannt. Dies war der 74. von 123 Transporten mit hauptsächlich älteren jüdischen Deportierten (Alterstransporte) von Berlin nach Theresienstadt bis zum Ende des Krieges.
Quelle: Yad Vashem, Zugfahrt in den Tod
https://deportation.yadvashem.org/index.html?language=de&itemId=5093057
Mit dem Transport Ea wurde sie vom Ghetto Theresienstadt am 16. Mai 1944 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz Birkenau gebracht. Über den Transport ist folgendes bekannt:
Ein Teil des Zuges startete in Berlin, der andere in Theresienstadt. Es war der zweite von drei Transporten, die Theresienstadt in diesem Monat, im Vorfeld der Inspektion des Ghettos durch eine Delegation des Roten Kreuzes, verließen. Auf dem Transport befanden sich 2.500 Männer, Frauen und Kinder […] Am folgenden Tag, dem 17. Mai, traf der Zug in Auschwitz-Birkenau ein.
Die Züge aus Theresienstadt nach Auschwitz nahmen die Nordroute nach Dresden, fuhren dann ostwärts nach Breslau (Wrocław) und von dort aus ins oberschlesische Kattowitz (Katowice). Anders als im Fall der meisten in Auschwitz-Birkenau einlaufenden Züge muss-ten sich die Häftlinge dieses Transports keiner Selektion unterziehen. Es wurde auch keiner von ihnen unmittelbar nach der Ankunft ermordet. Stattdessen befahl man ihnen, ihr Gepäck liegenzulassen und sich in die so genannte „Sauna“ zu begeben, wo sie rasiert wurden und eine Häftlingsnummer eintätowiert bekamen. Sie wurden dann in einen separaten, abgesonderten Abschnitt von Birkenau gebracht, der „Familienlager B II b“ genannt wurde. Dort waren sie mit Tausenden von anderen Theresienstadt-Häftlingen untergebracht, die bereits im Septem-ber 1943 angekommen waren.
Der genaue Zweck dieses Familienlagers ist nicht bekannt. Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz-Birkenau, behauptete während der Nürnberger Prozesse 1946, das Lager sei einge-richtet worden, um die Ängste der in Theresienstadt verbliebenen Häftlinge im Hinblick auf das Schicksal zu zerstreuen, das sie im Osten erwarten würde. Allerdings lassen diverse Indizien, die von dem Historiker Otto Dov Kulka vorgelegt wurden, eher darauf schließen, dass dieses Lager als Fassade dienen sollte, um ausländischen Delegationen (wie etwa Vertretern der dänischen Regierung und des Internationalen Roten Kreuzes) eine faire Behandlung der jüdischen Häftlinge vorzugaukeln, für den Fall, dass es zu einer Inspektion von Auschwitz-Birkenau gekommen wäre. Derartige Bemühungen gab es schließlich in Theresienstadt, wo mit viel Aufwand die Illusion von Normalität geschaffen und dem Roten Kreuz erfolgreich vor-gespielt wurde. Das Familienlager war der einzige Ort in Auschwitz, an dem kleine Kinder erlaubt waren und die Erwachsenen taten ihr Bestes, diesen Kindern eine den Umständen entsprechende erträgliche Umgebung zu erhalten.
In den Lagerakten wurden die Häftlinge des Familienlagers als „sonderbehandelt“ geführt. Offiziell hieß es „SB mit 6 monatiger Quarantäne“ (SB für Sonderbehandlung). Das Kürzel SB war die übliche Beschönigungsformel für Mord. Häftlinge, die mit späteren Transporten ins Familienlager kamen, wurden allerdings gelegentlich von diesem in die verschiedensten Arbeitslager verschleppt. Aus diesem Grund überlebten mindestens 137 Häftlinge aus diesem Transport den Krieg. Diejenigen, die im Birkenauer Familienlager blieben, wurden am 10. Juli 1944 in den Gaskammern ermordet.
Eine der Überlebenden, Ruth Siegler, erwähnte den Transport in ihren Memoiren:
“Mitte Mai wurde meine Familie vom Gruppenleiter angewiesen, sich an einem bestimmten Ort vor dem SS-Büro zu melden. Dort befahl man uns, unsere Sachen zu packen und am nächsten Tag zum Bahnhof zu kommen. Im Ungewissen über unser Reiseziel oder was die Zukunft für uns bereit halten sollte, wurden meine Eltern, Brüder, meine Schwester und ich in Viehwaggons gezwängt und am 16. Mai 1944 verließen wir Theresienstadt. […] In unserem Waggon befanden sich ungefähr 50 bis 60 Personen. Wir bekamen etwas Essen, aber kaum zu Trinken. Der Zug hielt während der relativ kurzen Fahrt nur einmal an. In einer Ecke befand sich ein Eimer für die Notdurft. Ich erinnere, dass ich mich erleichtern musste und meine Mut-ter oder Schwester gefragt habe, sich vor mich zu stellen, um ein wenig Privatsphäre zu haben. Es war unglaublich demütigend. Der Geruch im Waggon war kaum auszuhalten. Als der Zug anhielt, wurde der Eimer ausgeleert. Es gab faktisch kein Trinkwasser und noch nicht einmal Platz, sich hinzulegen. Neben uns im Waggon starben Menschen. Es wurde nicht viel geredet und die kleinen Kinder weinten. […] Als wir in Auschwitz II (Birkenau) ankamen, wurden die Waggontüren geöffnet. Die Frauen und Kinder stiegen zuerst aus. Viele der Kinder wein-ten und den Müttern wurde gesagt, bei ihren Kindern zu bleiben, um sie zu beruhigen. Männer und Frauen wurden getrennt. Frauen mit Kindern wurden aus der Reihe gezogen und von der Gruppe getrennt. Ich war 17 Jahre alt, gab aber ein anderes Alter an, um bei meiner Mutter und meiner Schwester bleiben zu können. Unsere Sachen wurden auf einen Haufen geworfen und uns wurde gesagt, wir würden sie später wieder bekommen. Zu dieser Zeit dachte ich, ‘Wie werden sie unsere Sachen finden können?’ Selbstverständlich hatten unsere Entführer gar nicht vor, uns irgendetwas zu geben, abgesehen von Leid und schließlich Tod.”
Quelle: Yad Vashem, Zugfahrt in den Tod (https://deportation.yadvashem.org/index.html?language=de&itemId=5092051&ind=-1)
[abgerufen und ein wenig bearbeitet am 12.08.2022].
Stolpersteine Helene Stein und Bert(h)a Sauerbach, geb. Stein
Der Weinhändler Max Stein und Frau Rosalia, geb. Ehrenstamm lebten in der Römerstraße 7, heute Nr. 19. Das Ehepaar hatte fünf Kinder: Helena, Flora, Bert(h)a, Eugen, Art(h)ur. Nach dem Tod von Rosalia heiratete Max Stein Rosalias Schwester Regina. In der zweiten Ehe wurde Rosalia geboren. Helena wurde ermordet. Flora, verh. Surhold, starb 1932. Berta wurde ermordet. Artur und Eugen Stein arbeiteten seit ca. 1912 als Weinhändler in Frankfurt am Main. Sie konnten fliehen. Eugen Stein entkam ca. 1938 nach England. Er starb dort 1954. Arthur Stein floh ca. 1938 in die USA. Er arbeitete noch im Alter von 68 Jahren 40 Stunden in der Woche an einem Aufzug in einem Hotel in New York. Er starb dort 1968. Rosalia, verh. Heiser, wurde im Rahmen der Euthanasie ermordet.
Helene Stein
Über Helene Stein (Lenchen) ist wenig bekannt. Sie wurde am 9. Juli 1873 in Heidesheim, Römerstr. 7 (heute 19) als erstes Kind des Weinhändlers Max Stein und Rosalia, geb. Ehrenstamm geboren. Sie war die älteste von fünf Geschwistern. Ihre Mutter starb, als sie zwölf Jahe alt war.
Sie soll konsvervatorisch gebildet gewesen sein, d.h. sie hat Klavier spielen gelernt. Laut Minderheitenzählung 1939 lebte sie zusammen mit ihrer Schwester in diesem Jahr in Stuttgart.[38]
Im Stuttgart ist sie ab 1940 in der Hegelstraße 49, 2. Stock gemeldet (Adressbuch Stuttgart 1940). Dies war ein sogenanntes Judenhaus. Dies waren Häuser von jüdischen Besitzern, in die nach Inkrafttreten des Reichsgesetzes über die Mietverhältnisse mit Juden vom 30. April 1939 jüdische Mieter zwangseingewiesen wurden. Die Menschen lebten dort dicht gedrängt bis zu den 1941 beginnenden Deportationen. Laut Zeitzeugen lebten Helena und Berta aber in der Rosenbergstraße 136. Von dort wurden das Geschwisterpaar zusammen mit ihrer Cousine Rosa Gruner am 1. Dezember 1941 nach Riga – Jungfernhof, Außenlager Ghetto Riga deportiert und dort wahrscheinlich sofort erschossen.[39] (Siehe auch unter Berta Sauerbach und Rosa Gruner). Laut Amtsgericht Stuttgart wurde am 16. November 1956 auf Veranlassung von Alfred Sauerbach, Sohn von Berta Sauerbach, für tot erklärt (Aktenzeichen GR.7021-22/56).[40]
Berta Stein, verh. Sauerbach
Bert(h)a Stein wurde am 17. Mai 1877 in Heidesheim als drittes Kind von Max und Rosalia Stein geboren. Über Kindheit, Schulzeit und Ausbildung ist bisher nichts bekannt. Berta heiratete am 24. November 1899 in Heidesheim den Kaufmann Emil Sauerbach aus Sauerschwabenheim, heute Schwabenheim. Zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit lebte das Paar laut Heiratsurkunde in Heidesheim. Laut Meldebogen[23] waren sie ab dem 6. Dezember 1899 in Offenbach in die Eginhardstraße 7 gezogen. Dort wurde am 9. Dezember 1899 ihr Sohn Alfred geboren. Im Oktober 1900 zogen sie wieder nach Heidesheim. Die Ehe hielt nicht lange. Im Februar 1904 zog Emil Sauerbach wieder nach Offenbach, von dort nach Mainz und wieder zurück nach Offenbach. Irgendwann in dieser Zeit wurde die Ehe geschieden.
Emil Sauerbach wanderte in die USA aus. Am 3. Juli 1907 erreichte er von Antwerpen kommend auf der „Vaderland“ New York, USA. Seine zweite Ehe führte er mit Sidonie Sauerbach, geb. am 2. Mai 1885, gest. 1970. Er erhielt 1910 die amerikanische Staatsbürgerschaft, seine Frau Sidonie schon 1903.[24] Laut einer Meldekarte von 1918 arbeitete er als „Salesman für die Carmel Oil Co“. Die Firma war in der Jennings Street 821 in New York im Stadtteil Bronx angesiedelt.[25] Vermutlich hatten die beiden zwei Kinder: Carl und Martha. Margarete Howe (es muss Elise Stein, geb. Howe sein) schrieb in einem Brief nur von einer Tochter.[26] Aus einer Volkszählungsliste geht hervor, dass er 1930 noch in der Bronx lebte, im Distrikt F. Er war zu dieser Zeit ein arbeitsloser „Salesman“. Er wohnte in Brooklyn, NY 11226. [27] Er starb am 24. Mai 1937 in Manhattan, NY, USA.[28]
Melemstraße 8 in Frankfurt
Über Berta Sauernbach erfahren wir erst wieder 1929. Da lebte sie in der Melemstr. 8 in Frankfurt. Diese Wohnung in einem Stadthaus in Frankfurt bewohnten die Geschwister Stein seit ihrem Neubau 1915. Aus einem Schriftverkehr von 1929 zwischen Berta Sauerbach und ihrer Schwester Rosalia Heiser geht hervor, dass sie dort nach ihrer Flucht aus der Pflegeeinrichtung in Heidesheim hier unterkam (siehe Rosalia Heiser).[29] Während des Aufenthaltes von Rosalia Heiser in Frankfurt kümmerten sich laut Aussagen ihres Bruders Artur die Schwestern Helene und Berta um sie. In der Melemstraße 8 muss zunächst auch Artur Stein gewohnt haben, wohl bis zu seiner Hochzeit mit Emma Nussbaum. Dann zog er in die Scheffelstraße 22 um. In der Heiratsurkunde ist angegeben, dass seine Ehefrau dort zum Zeitpunkt der Trauung lebte. Aber auch sein Bruder Eugen lebte bis zu seiner Hochzeit 1918 in der Melemstraße.[30] Ab ca. 1924 wohnte dort laut Frankfurter Adressbuch auch Alfred Sauerbach, der Sohn von Berta Sauerbach. Spätestens seit 1929 lebte seine Mutter bei ihm, außerdem zumindest eine weitere Schwester, die 1932 verstorbene Flora, verh. Surhold (Quelle: Sterbeurkunde). Die Wohnung scheint nach dem Wegzug aus Heidesheim das Domizil der Geschwister Stein gewesen zu sein.
Alfred Sauerbach muss ca. 1934/1935 eine Anstellung in einem Textilwarengeschäft in Stuttgart bekommen haben. Wahrscheinlich war er der erste der Familie, der nach Stuttgart verzog. Das geht aus einem Brief der Schwägerin Elisa, genannt Margarete, geb. Howe, hervor, der Frau ihres Bruders Eugen Stein. „Frau Sauerbach hatte die ganzen Stoffe, die ihr noch Alfred aus seinem Geschäft in Stuttgart, in dem er beschäftigt war, besorgt hatte, verarbeiten lassen oder selbst verarbeitet. Es war der ganze Wäscheschrank voll.„
Ab 1938 ist sie auf dem Hölderlinplatz 4 gemeldet (Adressbuch Stuttgart1938 und 1939, Passagierliste Alfred Sauerbach[31]).
Ab 1940 lebte sie in der Hegelstr. 49 (Adressbuch 1940, S. 727), einem Judenhaus[32]. Jedoch gibt es andere Hinweise, dass sie in der Rosenbergstr. 136 lebte. Dies wird aber nicht in den Adressbüchern vermerkt.[33]. Aus dem Schreiben ihrer Schwägerin Margarete Howe von 1955 geht hervor, dass sie im Parterre gewohnt hat. Das würde auf das Haus Rosenbergstr. 136 zutreffen. Dennoch bleibt die Frage, wieso in den Adressbücher etwas anderes steht.
Auch die Adressbücher dienten dder systematischen Ausgrenzung der Juden. Zunächst wurden ihr Judesein öffentlich gemacht, egal ob sie das wollten oder nicht. In den Adressbüchern wurden sie dann im Straßenverzeichnis mit einem „J“ für „Jude“ gekennzeichnet. Ab 1940 wurden sie nicht mehr im allgemeinen Namensverzeichnis aufgeführt, sondern in einer eigenen Rubrik im Anhang. Die Gestapo musste nur die Seiten im Adressbuch aufschlagen und ihre Opfer einsammeln.
Auch aus einem Schreiben von Frau Elisa Stein (Grete Howe, s.u.) vom 12. Januar 1956 geht hervor, daß die beiden Schwestern Berta und die unverheiratete Helena zusammen gewohnt haben.
Aus den Restitutionsakten wird ein wenig deutlich, wer die Frauen waren und wie sie lebten. Bei Grete Howe muss es sich um die Ehefrau von Eugen Stein handeln. Sie war eine geborene Howe, Margarete (Grete) Howe. Am 17. September 1955 schrieb sie an ihren Neffen Alfred Sauerbach in New York: „Lieber Alfred, ich erhielt heute Deinen Brief und wolltest Du gerne wissen, was mit den Sachen und dem Besitz Deiner lieben Mutter bei ihrer Deportation geschehen ist. Als Deine liebe Mutter mir schrieb, dass sie mit dem nächsten Transport mitkämen, (es war nur zwei Tage vorher, da sie für zwei andere, die krank geworden waren, gewählt wurden). Lehnchen [Helene Stein] ging freiwillig mit, fuhr ich sofort nach Stuttgart, um ihr behilflich zu sein. Sie wohnten noch in der gleichen 4 Zimmer Wohnung, wie Du sie verlassen hattest. Die ganze Einrichtung Möbel, Klavier, Betten, Teppiche, Vorhänge, auch das ganze Silber waren noch da. Sie hatten noch gar nichts verkauft, da sie ja doch täglich auf ihre Auswanderung nach Amerika warteten und ja auch Geld ausreichend hatten.
Außerdem hatten sie die ganze Ausstattung für sich selbst an Kleidern und sehr viel neue Bettwäsche, es war ein ganzer Schrank Wäsche, für Amerika und auch Überseekoffer angeschafft. Geld hatten sie auch an 4000 RM bereit liegen, da man ja damals nur beschränkte Beträge abheben konnte, hatten sie es von der Bank nach und nach geholt. Dieses nahm die Gestapo an sich und gab jeder einige Mark – da sie dort alles frei hätten. Es ging ja auch alles so überraschend schnell. In den meisten Fällen trieb sich die Gestapo auch schon tagelang vorher in den Wohnungen herum und notierte alles. Ich wurde auch notiert, d.h. Die Personalien aufgenommen und gefragt, wer ich bin. Als ich sagte, ich wäre zur Hilfe gekommen, erlaubten sie mir zu bleiben und auch bis vor die Türe des Versammlungslokales mitzugehen und tragen zu helfen. Jeder durfte nur einen Koffer mitnehmen, den sie tragen konnten.
Hier in Frankfurt kam jeder, der in einem Haushalt angetroffen wurde und nicht zur Verwandtschaft gehörte, ins Gefängnis. Nach Verlassen der Wohnung wurde diese von der Gestapo abgeschlossen und versiegelt. Was damit geschehen ist, weiss ich nicht. Hier in Frankfurt suchten sich die von der Gestapo und die Frauen der N.S.V. [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] das Beste heraus, das andere wurde wohl zur Versteigerung gegeben. Ich fuhr nach einigen Wochen noch einmal herunter, um zu sehen, ob noch etwas zu retten ist, aber niemand wusste etwas, auch wohnten schon andere Leute darin.
Ich schreibe auf Eugens [ihr 1954 in England verstorbener Ehemann] alter Maschine, meine haben sie mir gestohlen. Dauernd setzt das Ding aus. Ich hoffe, lieber Alfred, dass Dir diese Auskunft genügt. Grüsse bitte Deine liebe Frau und Dein Töchterchen herzlichst von mir. Mit herzlichen Grüßen und Wünschen für Dich, bin ich Deine Grethe Howe“[34]
Aus dem Brief wird deutlich, dass Berta Sauberbach und möglicherweise auch Helene Stein ein Visum in die USA beantragt hatten. Das amerikanische Konsulat war damals in Stuttgart. Sie hatten sicher eine Registriernummer. Aber die Einreise in die USA war beschränkt. Jedes Jahr wurde nur eine gewisse Anzahl zugelassen. So mussten die Antragsteller warten. Viele von ihnen, so auch Berta Sauerbach und Helene Stein, schafften die Ausreise nicht mehr.
Ein Brief von Margarete Howe an den Rechtsanwalt Ludwig van der Walde vom 12. Januar 1956 enthält weitere Details. Der Rechtsanwalt wird die Restitution bearbeitet haben:
„Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt!
Ihre Anfrage vom Dezember kann ich leider erst heute beantworten, da ich erkrankt war und mich nicht informieren konnte.
Es kann wohl sein, dass es mir durch die Länge der Zeit und durch viele Schicksale in der eigenen Familie gar nicht aufgefallen ist, dass Frau Sauerbach in eine andre Wohnung gezogen ist. Alfred ist ja wohl schon sehr früh, im Jahr 38 aus Deutschland gegangen und ich zu der Zeit nicht in Frankfurt, wohl überhaupt nicht in Deutschland, da ich viel im Ausland war, solange dieses noch erlaubt war.- Jedenfalls habe ich nur die Wohnung und Einrichtung (unleserlich). Es waren ein sehr hübsches Ess- und Wohnzimmer mit Buffet, Kredenz-Tisch, grosser schöner Standuhr, Tisch und Stühle und auch einige schöne wertvolle Bilder, Vorhänge und Teppich, dann ein Compiler. Schlafzimmer mit zwei Betten, da die Schwester von Frau Sauerbach [Helene Stein] bei ihr wohnte – dann ein k.[kleines] Einzelzimmer, in dem ich schlief und das wohl öfters vermietet worden war und noch ein Zimmer, das eine Art Wohnküche mit Kochgelegenheit war. Die gr.[große] Küche war im Souterrain. – dass Frau Sauerbach Möbel verkauft hat, glaube ich nicht, da es sehr schwer war, wenigstens hier in Frankfurt, Möbel zu verkaufen. Die jüd. Familien wurden ja von allen Seiten hier bespitzelt und sie sollten ja nichts verkaufen, sondern alles komplett lassen, damit die Frauen von der NSV [Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt] oder die Gestapo selbst sich die Sachen aussuchen konnten, ehe das Finanzamt kam. Manche wagten hier nicht mal ein Buch aus ihrem Bücherschrank zu verleihen, weil die Gestapo sie sich schon vorgemerkt hatte. Sobald ein größeres Möbelstücke aus dem Haus getragen wurde, regte sich die ganze Nachbarschaft auf.
Das Bank – Conto kann ich Ihnen auch nicht sagen, sie bekamen alle nur beschränkte Beträge, entweder monatlich oder wöchentlich ausgezahlt und waren die Beträge sehr gering und richteten sich nach der Grösse des Bank – Kontos. Deshalb hoben die meisten alles nach und nach ab und verwahrten es bei Bekannten oder bei sich zu Hause. Das hatte Frau Sauerbach auch getan und da sie ja immer auf die Genehmigung zur Ausreise nach Amerika warteten, das Geld für die Reise gespart. Alles lag schon fertig dazu da, Kleider und Mäntel und auch Bett- und Gebrauchswäsche ganz neu und ungebraucht war ein ganz grosser Teil vorhanden. Frau Sauerbach hatte die ganzen Stoffe, die ihr noch Alfred aus seinem Geschäft in Stuttgart, in dem er beschäftigt war, besorgt hatte, verarbeiten lassen oder selbst verarbeitet. Es war der ganze Wäscheschrank voll. – Die Nachricht von der Deportation kam ja auch so überraschend, Frau Sauerbach hatte ja gar nicht mehr damit gerechnet. Da sie für eine andere Dame, die erkrankt war, als Ersatz gewählt wurde, es waren nur zwei Tage vorher.
Ich fuhr sofort hin, aber als ich ankam, ging schon die Gestapo im Hause ein und aus. Das ganze Haus wurde deportiert, es waren alles jüdische Familien.
Wir hatten so viel zu tun und dachten nur an das Notwendigste. Da es hieß der Transport geht nach Russland, fehlte es an warmen Sachen und einfachere Kleidung. Sie hatten ja (die Gestapo) den Leuten eingeredet, sie könnten dort arbeiten und sich ihren Unterhalt verdienen. Es mussten Rucksäcke angeschafft werden, denn jeder durfte nur einen Handkoffer, den er selbst tragen konnte, mitnehmen und warme Decken für die Fahrt und warme, derbe Schuhe. Wir dachten gar nicht daran von Silberabgabe und Bank – Konto zu sprechen. Frau Sauerbach wollte das Geld gerne mitnehmen, um sich doch in Russland von Anfang an helfen zu können, evtl. einen Erwerb zu schaffen. In Stuttgart waren die Gestapo-Leute sehr anständig, besonders der eine von ihnen half den Leuten und erlaubte ihnen allerhand. Ich durfte auch bleiben und helfen und sogar nachher mitgehen und tragen helfen. – Vielleicht haben sie keine Leibesvisitation gemacht, sondern nur, wo sie etwas vermuteten. Hier in Frankfurt war alles viel strenger, viele hatten in ihre Mäntel u. Kleider Schmucksachen eingenäht.
Die Silberabgabe muss vor der ersten Deportation gewesen sein, das Datum konnte ich nicht erfahren, jedenfalls war ich zu dieser Zeit nicht in Deutschland. Ich entsinne mich aber sehr gut, dass Frau Sauerbach auf ihrem Buffet sehr schöne Silbersachen stehen hatte, eine silb.[erne] Garnitur Kaffeekännchen, Milch- und Zuckerschale, 2 große silberne Leuchter, eine wertvolle Teedose, holl. Silberarbeit,, wo im Relief der Auszug der Kinder Israels gearbeitet war, dann 2 schöne Kuchenschalen u. ein silberner Brotteller. Ich entsinne mich dieser Sachen so genau, weil sie teilweise aus dem Nachlass ihrer verstorbenen Schwester waren, bei der ich früher verkehrte [Flora Surhold, gest. 20.10.1932]. Diese Sachen habe ich bei ihr nicht mehr gesehen und sie hat diese abliefern müssen, um nicht angezeigt zu werden. Vielleicht war es ihr möglich, die Bestecke oder einen Teil zu retten – vielleicht waren diese auch schon Ersatz, wie hier viele Familien angeschafft hatten. Jedenfalls ist es ja auf jeden Fall in die Hände der Gestapo gefallen. Die Wohnungen wurden ja alle nach Verlassen von der Gestapo verschlossen u. versiegelt. Die guten Sachen holten sie dann heimlich nachts oder morgens ganz früh ab unter irgendeinem Vorwand. – Ich fuhr dann, wir durften nur bis an die Pforte des Versammlungsortes mit, gleich ab, da die Gestapo mich immer beobachtete. Nach einigen Wochen war ich wieder in Stuttgart und ging am Hause vorbei, es war von andren bewohnt.
Ich vergass noch das Klavier zu erwähnen, das sie auch noch hatte. Beide Damen waren konservatorisch ausgebildet und Frau Sauerbach hatte noch, soweit es ihr möglich war, Klavierunterricht gegeben.
Die Deportation war Ende November 41.
Ich hoffe, dass Sie meine Aussagen verwenden können, bin aber gerne bereit, Ihnen noch weitere Angaben zu machen. Wir haben hier in Frankfurt jede Deportation miterlebt, nur können wir uns nicht so genau der Daten erinnern. Die meisten kamen ja ums Leben und ich glaube nicht, oder nur die wenigsten der Hinterbliebenen bei ihren Ersatzansprüchen die Bank-Contenance etc. wissen, an diese Sachen dachte ja bei den Aufregungen kaum jemand. – dass es mal zur Abrechnung kommen würde, überhaupt dieses schreckliche Regime jemals ein Ende finden würde, daran hat kaum jemand gedacht.
Hochachtungsvoll
Margarete Howe[35]
Margarete Howe war nicht jüdisch. Sie konnte deshalb wohl in Frankfurt in ihrer Wohnung in der Frankfurt Liebigstraße. 24 bleiben. Dort wohnte sie auch noch 1955. Wann ihr Mann Deutschland verlassen hat, ist nicht ganz klar, wohl vor oder nach dem Novemberpogrom 1938. Manchmal konnten nichtjüdische Angehörige einige Sachen ihrer jüdischen Verwandten retten, zumindest Fotoalben und andere persönliche Gegenstände. Hier scheint das nicht möglich gewesen zu sein. Es ist davon auszugehen, dass die Schwestern Ende November 1941 ihr Gepäck im Gemeindehaus in der Hospitalstraße oder im Sammellager auf dem Gelände der 3. Reichsgartenschau 1939 auf dem Killesberg abliefern mussten.
In der Akte von Berta Sauerbach im Staatsarchiv Ludwigsburg ist ein Zettel erhalten mit der Überschrift „Pfandleihanstalt“. Dort sind 15 Posten Wertgegernstände aufgeführt. Unter ihnen befinden sich auch die von Margarete Howe genannten Silbersachen (FL 33/33, BÜ 2319). Leider steht da kein Name der Pfandleihanstalt und kein Datum. Es ist ein weiteres Zeugnis der Beraubung der Juden.
In den Akten zum Wiedergutmachungsprozess, den Alfred Sauerbach geführt hat, ist eine Zeugenaussage einer Freundin von Helene Stein und Berta Sauerbach aus dem Jahr 1961 erhalten. Die Aussagen von Frau Paula Hingel, geb. Kohler, geben Aufschluss über die letzten Lebensjahre der Schwestern:
„Nach 1932 oder 1933 schrieb mir Herr Eugen Stein, sein Neffe Alfred Sauerbach hätte einen Posten angenommen in Stuttgart und würde bei mir vorbeikommen wegen einer Wohnung. Ich habe ihn 4-6 Wochen bei Bekannten untergebracht. Er fand dann eine Wohnung am Hölderlinplatz 4. Wenn ich Zeit hatte, besuchte ich ihn. Er ist dann 1936 oder 1937 ausgewandert. Seine Mutter Berta Sauerbach blieb in der Wohnung Hölderlinplatz 4 zusammen mit ihrer Schwester Lenchen Stein, die ledig war. Der Hausbesitzer hat ihnen gekündigt, weil sie Juden waren; da war noch nicht Krieg. Sie sind dann vom Hölderlinplatz in die Hölderlinstraße [4] umgezogen; … In der Hölderlinstraße hatten die beiden anstelle ihrer seitherigen 3 Zimmer nur noch 2 Zimmer, aber grosse, mit Küchenbenutzung. Nach meiner Erinnerung haben sie bei ihrem Umzug einen Teil ihres Mobiliars weggegeben; sie dürften die Sachen eben verkauft haben. Sie hatten nicht mehr soviel Wohnraum wie vorher und eben keine eigene Küche mehr und waren deshalb gezwungen, einen Teil des Mobiliares abzustoßen. Nach einiger Zeit mussten Berta Sauerbach und ihre Schwester Lenchen Stein auch aus dieser Wohnung wieder heraus; … Ich kam nur sehr selten in die Wohnung, weil die SS sich in der Nähe aufhielt. Eines Tages kam Frau Sauerbach in meiner Abwesenheit in meine Wohnung und liess mir mitteilen, ich solle bei ihr vorbeikommen, da sie in den nächsten Tagen weg müsse. Als ich wohl am folgenden Tag hinging, traf ich niemand an. Ich habe sie dann gar nicht mehr wiedergesehen.
Frau Sauerbach hatte bei unserem letzten Zusammentreffen mir erzählt, dass sie nach dem Osten umgesiedelt würden, sie wisse jedoch nicht wann und wohin; sie solle schöne Kleider, warme Decken, möglichst Matratzen, mitnehmen. Die Zimmerchen waren so klein, dass nicht mehr viel da war. Die Gold- und Silbersachen mussten die beiden abliefern. Frau Sauerbach hat mir dies selbst erzählt.
… Kurz bevor Frau Sauerbach deportiert wurde, liess sie zu mir alte Sachen bringen zur Aufbewahrung, die jedoch keinen Wert hatten. Einige Zeit später kam Frau Howe aus Frankfurt und hat die Sachen mitgenommen.“[36]
Roland Müller schreibt dazu:
„Seit dem 27. November trafen Betroffene aus den Landgemeinden, begleitet von Ordnungspolizisten, in Sonderabteilen oder -wagen regulärer Züge in Stuttgart ein. Während in der sogenannten Ehrenhalle des Reichsnährstands Visitation und Registrierung erfolgte, mussten die Menschen mehrere Tage und Nächte in drangvoller Enge in der Blumenhalle kampieren. Für die Deportation mussten die Opfer eine Fahrkarte bezahlen sowie die Beschlagnahme ihres (meist kaum noch vorhandenen) Vermögens quittieren. Ein von der Stapoleitstelle oder der Stadt in Auftrag gegebener Film über das Sammellager ist ein Dokument der Verzweiflung und Grausamkeit zugleich.
In den frühen Morgenstunden des 1. Dezember 1941 begann eine viertägige Fahrt vom Inneren Nordbahnhof nach Riga. Das dortige Ghetto war trotz eines Massakers am 30. November bei Ankunft des Zuges aus Stuttgart sowie Zügen aus Nürnberg, Wien und Hamburg noch belegt. Die Deportierten wurden deshalb in das provisorisch als Lager hergerichtete Gut Jungfernhof verschleppt. Aufgrund der katastrophalen Bedingungen in ungeheizten Scheunen sowie bei der Zwangsarbeit starben viele Menschen. Der Großteil der Deportierten fiel am 25. März 1942 einem Erschießungskommando zum Opfer. 1943 wurden Überlebende ins neu eröffnete KZ Kaiserwald verlegt. Nach den Erhebungen Paul Sauers haben nur 42 Personen diese Deportation überlebt.“[37]
Vielleicht trafen die Schwestern dort ihre Cousine Gruner wieder, die im gleichen Transport deportiert wurde (siehe oben).
Es sind bis heute keine genauen Dokumente über den Tod der beiden bekannt. Laut Prof. Roland Müller gibt es für die Deportation von Stuttgart nach Riga vom 1. Dezember 1941 keine Transportliste der Stapoleitstelle wie für die zwei großen Deportationen des Jahres 1942. Deshalb waren bei einschlägigen Projekten bzw. nachträglich erstellten Listen gewisse Ungenauigkeiten nicht zu vermeiden.
Alfred Sauerbach beantragte 1956, dass seine Mutter und ihre Schwestern für tot erklärt wurden. Dies war notwendig, um eine Restitution für die geraubten Güter zu beantragen. Da Alfred Sauerbach in den USA lebte, bat er seine Tante, Elise Stein/Margarete Howe, den Prozess in Gang zu setzen.
Obwohl die Schwestern schon lange nicht mehr in Heidesheim wohnten, wurden auf ihre Geburtsurkunden am 20. Dezember 1938 vermerkt, dass sie Sara als zusätzlichen Namen angenommen haben. Sie wurden allerdings nicht gefragt, ob sie diesen Namen tragen wollten. Am 20. April 1951 wurde dieser Name wieder gelöscht. Letzte Eintragung ist, dass das Amtsgericht Stuttgart sie am 16. November 1956 für tot erklärt hat (Aktenzeichen GR.7021-22/56). Dieser Tag des Kriegsendes wurde gewählt, weil kein anderes Datum bekannt war.
Die Akten über den Wiedergutmachungsprozess im Staatsarchiv Ludwigsburg veranschaulichen, wie diese Prozesse verliefen. Die Angehörigen mussten genau nachweisen, welche Güter ihnen gerabt wurden. Nicht berücksichtigt wurde, dass die beiden Schwestern den größten Teil ihrer Habe bereits auf dem Umzug von Frankfurt nach Stuttgart und dort von einer Wohnung in die andere verloren hatten. Dank der Nachforschungen von Alfred Sauerbach sind wenigstens einige Spuren ihres Lebens erhalten geblieben.
Quellenangaben
[23] Quelle: Staatsarchiv Stuttgart, FL 300/33 I, BÜ 3374, recherchiert von Jennifer Lauxmann-Stöhr, Recherche 18. Oktober 2022
[24] Siehe: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/e5486815-dabd-4b74-a64c-f36b28ce3345/%22Deportationen%22_seit_1941_mit.html [13.10.2022]
[25] URL: https://www.myheritage.de/research/collection-10901/deutsche-minderheiten-volkszahlung-1939?s=574206361&itemId=356389-&groupId=7030f6c205b2c3a260694ede49906b15&action=showRecord&recordTitle=Helene+Stein, [13.10.2022]
Alphabetischen Verzeichnis der jüdischen Einwohner, Adressbuch Stuttgart 1940 Namensverzeichnis S. 727, 2. Stock, Straßenverzeichnis S. 190. Ab 1940 sind im Stuttgarter Adressbuch die Namen der Juden hinter dem allgemeinen Namensverzeichnis aufgeführt.
[26] URL: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de974615 [13.10.2022]
[27] Stadtarchiv Ingelheim
[28] Brief von Rosalia Heiser vom 4. Juni 1929 an die Bürgermeisterei Heidesheim (STA Ingelheim Kiste Heidesheim 129.
[29] https://www.myheritage.de/research/collection-10817/deutschland-hessisches-personenstandsregister-1849-1931?s=574206361&itemId=52560-S&action=showRecord&recordTitle=Eugen+Stein+%26+Elise+Anna+Wilhelmine+Howe
[30] Brief von Margarethe Howe an Rechtsanwalt Ludwig van der Walde am 12. Januar 1956, Staatsarchiv Ludwigsburg, Restitutionsakte
FL 300/33 I, BÜ 3374.
[31] https://www.myheritage.de/research/collection-10512/ellis-island-und-andere-new-york-passagierlisten-1820-1957?s=574206361&itemId=20615006-M&action=showRecord&recordTitle=Berta+Sauerbach
[32] Siehe Volkszählungsliste 1939 URL: https://www.myheritage.de/research/collection-10901/deutsche-minderheiten-volkszahlung-1939?itemId=347476-&groupId=7030f6c205b2c3a260694ede49906b15&action=showRecord&recordTitle=Berta+Sauerbach+%28geb.+Stein%29 Adressbuch Stuttgart S. 727. Ab 1940 sind Juden im Adressbuch nicht mehr im Personenverzeichnis, sondern am Ende des Personenverzeichnisses in einer separaten Liste erfasst. Im Straßenverzeichnis stehen Sie weiterhin, aber mit zusätzlicher Zwangsnamensbezeichnung Israel für Männer und Sara für Frauen. [5.08.2022]
[33] Die Stuttgarter Adressbücher scheinen nicht immer exakt gewesen zu sein. Auch Hölderlinplatz und Hölderlinstraße wurden verwechselt.
[34] Staatsarchiv Ludwigsburg, FL 300/33 I, BÜ 3374
[35] Staatsarchiv Ludwigsburg, FL 300/33 I, BÜ 3374. Dak an Frau Lauxmann-Stöhr für die Abschrift.
[36] https://www.myheritage.de/research/collection-10134/volkszahlung-1930-der-vereinigten-staaten?s=574206361&itemId=214283905-&groupId=d0a0456dcd557fbe808aeb063f0503e6&action=showRecord&recordTitle=Sidonie+Sauerbach
[37] https://www.myheritage.de/research/collection-10513/vereinigte-staaten-1-weltkrieg-registrationsrentwurfe-1917-1918?s=574206361&itemId=22135995-&action=showRecord&recordTitle=Emil+Sauerbach[11.10.2022]
[38] Brief von Margarete (Grete) Howe 17. September 1955 an Alfred, Staatsarchiv Ludwigsburg, FL 300/33 I, BÜ 3374. Ute Wohlrab schrieb sie dankenswerterweise ab.
[39] https://www.myheritage.de/research/collection-10002/us-sterbe-verzeichnis-der-sozialversicherung-ssdi?s=574206361&itemId=11900297-&action=showRecord&recordTitle=Sidonie+Sauerbach, https://www.myheritage.de/research/collection-10002/us-sterbe-verzeichnis-der-sozialversicherung-ssdi?s=574206361&itemId=11900297-&action=showRecord&recordTitle=Sidonie+Sauerbach
[40] https://www.myheritage.de/research/collection-10734/new-york-city-sterberegister-1862-1948?s=574206361&itemId=4445350-&action=showRecord&recordTitle=Emil+Sauerbach [10.10.2022]
[41] Siehe Stadtarchiv Offenbach