Der Stadtrat beschloss in seiner Sitzung vom 8. März 2010, eine Straße nach dem Lehrer und Kantor Ludwig Langstädter zu benennen. An dieser Straße liegen die neue Kaiserpfalz Realschule plus, die Turnhalle der TG Nieder-Ingelheim und das neue Jugend- und Kulturzentrum „Yellow“.
Louis Ludwig Langstädter war von 1908 bis 1933 Lehrer an der Volksschule in Ober-Ingelheim. Den jüdischen Kindern an der Höheren Bürgerschule, dem Vorgänger des Sebastian-Münster-Gymnasiums, erteilte er Religionsunterricht.
Er wurde am 6. April 1879 in Memmelsdorf bei Bamberg geboren. Er kam zum Schuljahresanfang im April 1908 als Religionslehrer nach Ober-Ingelheim. Er hatte offensichtlich die Stelle des Lehrers Julius Krämer übernommen, der im März 1908 Ober-Ingelheim verlassen hatte.
Er bewarb sich wahrscheinlich auf die Stelle auf eine Anzeige im „Israelit“ vom 16. Januar 1908. Zum 15. März 1908 wurde ein Religionslehrer, Kantor und Leiter des Synagogenchors gesucht. Die Lehrerstelle war staatlich und pensionsberechtigt. Einne freie Wohnung wurde gestellt. Dazu erhielt er ein Gehalt von 700 Mark von der Gemeinde. Die Lehrerstelle wurde je nach Dienstalter mit 900 Mark anfangend besoldet.
Vom 2. August 1914 bis Ende 1916 war er Soldat im 1. Weltkrieg. Dann wurde er zur Ausübung seiner Dienste unabkömmlich gestellt.
In erster Ehe war Langstädter mit Mathilde Stern aus Schwanfeld bei Würzburg verheiratet.
Mathilde Langstädter starb am 13. Februar 1929 in Ober-Ingelheim und wurde auf dem Friedhof in der Hugo-Loersch-Straße beerdigt. Der Grabstein steht dort bis heute. Er ist teilweise zerstört. Es ist nicht bekannt, wann und wie das geschah
Das Ehepaar hatte einen Sohn, Kurt Langstädter (ge. 1908). Er besuchte die Volksschule und die Höhere Bürgerschule in Ingelheim. Weiter ist nichts bekannt. Im Haushalt lebte zeitweise auch Bruno Langstädter, der Sohn von Heinrich Langstädter, einem verstorbenen Bruder von Louis. Bruno zog 1922 nach Frankfurt am Main. Er konnte ins britische Mandatsgebiet Palästina entkommen. Dort heiratete er 1936 und hat Nachfahren in Israel.
In zweiter Ehe heiratete Langstädter am 6. November 1930 Elisabetha (Betty) Kahn, geboren am 14. Mai 1895 in Ober-Ingelheim. Ihr Elternhaus stand im Neuweg 1. Sie war das zweite von vier Kindern des Viehhändlers Salomon Kahn und seiner Frau Rieke, geb. Fränkel.
Ein wichtiges Mitglied der jüdischen Gemeinde
Ludwig Langstädter war eine wichtige Person für das Leben der jüdischen Gemeinde in Ingelheim. Er führte als Kantor (Vorsänger) in der Ober-Ingelheimer Synagoge die Gemeinde durch den Gottesdienst. Er wohnte mit seiner Frau Mathilde, seinem Sohn Kurt und seinem Neffen Bruno im Vorderhaus in der Stiegelgasse 25. Er sang dort während der Gottesdienste die Gebete vor. Mehrfach wird er als Rabbiner bezeichnet. Dies deutet auf seine herausragende Stellung hin. In Ingelheim gab es keinen Rabbiner. So nahm Langstädter viele rabbinische Funktionen wahr. So ist überliefert, dass er predigte. Er leitete den Synagogenchor “Harmonie”.
Die Ingelheimer Zeitung berichtete am 31. Oktober 1932:
“Der jüdische Frauenverein feierte sein hundertjähriges Bestehen. In der festlich geschmückten Synagoge fand ein Festgottesdienst statt, in dem Lehrer Langstädter die Predigt hielt. Der 1. Vorsitzende der Gemeinde, Ferdinand Oppenheimer, konnte neben zahlreichen Ehrengästen auch Bürgermeister Dr. Rückert begrüßen. Der Frauenverein hat einen Vorhang für die heilige Bundeslade (der Toraschrein, Anmerkung d. A.) gestiftet.”
Langstädter war Mitglied im Hilfsverein der deutschen Juden. Dieser Verein durfte sich ab 1935 nur noch „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ nennen. Der Verein kümmerte sich um notleidende Juden in Osteuropa und im Nahen Osten.
Ein engagierter Bürger
Ludwig Langstädter war zwar nicht in einer Partei organisiert, unterzeichnete aber anlässlich der Gemeinderatswahl am 17.11.1929 als Nummer 24 die Vorschlagsliste der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Für die aufkommenden Nationalsozialisten war er ein zweifacher Feind – Jude und Demokrat.
Langstädter engagierte sich auch in einem nichtjüdischen Ingelheimer Verein. Er war der letzte Dirigent des Arbeitergesangvereins Ober-Ingelheim bis zu seiner Auflösung 1933.
Das Ende eines geachteten Lehrers
Die Zeitzeugenaussage eines Schülers, des Apothekers Karl Zerban, schildert Langstädter folgendermaßen: ”Langstädter war mein Klassenlehrer. Er … war ein normaler Lehrer. Langstädter war ein sehr ruhiger, in sich gekehrter Mensch. Er hat so schon nicht viel gelacht, aber nachher hatte er ja gar nichts mehr zu lachen. Er wurde schwer misshandelt, auch seelisch. Die mussten mit der Schippe ‘rummarschieren und wurden dann später abtransportiert” (Meyer 1998, S. 373).
Heinrich Herbert schreibt im Ingelheimer Lesebuch: “Ludwig Langstädter stand als Volksschullehrer und als Rabbiner (er war Kantor, nicht Rabbiner) in seiner Gemeinde in hohem Ansehen. Auch im damals fast ausschließlich der NSDAP angehörenden Lehrerkollegium hatte er bis zuletzt unangefochten seinen festen Platz. Und ich erinnere mich noch gut an diese Worte unseres Klassenlehrers und SA-Führers: ‘Der Herr Langstädter ist als Lehrer ausgeschieden. Wenn ihr ihm begegnet, zieht die Mütze und sagt “guten Tag’ und nicht “HH”, zu ihm.’ Eine Reihe guter Jahre durfte Herr Langstädter bis dahin in Ober-Ingelheim haben. Ich erinnere mich noch gut an sein zufriedenes Gesicht, wenn er an den Sabbaten nach dem Gottesdienst vor der Synagoge seine Gemeinde-Mitglieder verabschiedete. Die Stiegelgasse war dann belebt mit ausschließlich schwarz gekleideten Juden. Die meisten Männer trugen runde, steife Hüte. An Feiertagen sah man hingegen fast nur Zylinder”(1992, S.112).
Langstädter wurde laut Bericht der Ingelheimer Zeitung vom 11. März 1933 bereits Anfang März an der Ausübung seiner Lehrertätigkeit behindert und im Zuge des “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” vom 7. April 1933 am 11. Mai 1933 im Jahr seines 25-Jährigens Dienstjubiläums des Dienstes enthoben. Dieses Gesetz wurde erlassen, um jüdische Beamte aus dem Dienst zu entfernen.
Carlheinrich Fischborn erlebte Ludwig Langstädter von 1931 bis 1933 als sein Schüler. Er erinnert sich 2013:
UNSERE KLEINE WIRKLICHKEIT 1931 -1933: Wir freuen uns täglich auf ,die Schule‘ (im Erdgeschoss des Rathauses zu Ober-Ingelheim), auf Ludwig Langstädter, auf ,El-El‘. Ein Zeichentalent. Er zaubert mit weißer und bunter Kreide auf die Wandtafel unsere schon bekannte und noch unbekannte Heimat: Man spürt den Wind in den Baumkronen unter den Wolken, man sieht den Eichhörnchen und Vögeln ihre Scheu an, ständig auf der Flucht…
IN DER STIEGELGASSE schauen wir oft durch ein breites, schmiedeeisernes Tor und auf einen gepflasterten Hof, beides überbaut. Hier wohnt mit seiner Ehegefährtin unser ,El-El‘, Ludwig Langstädter, Lehrer und Rabbiner (Kantor, Anm. d. A.). Und da ist er schon. Er schließt auf. Bittet uns herein. Holt Matzen im Brotkörbchen. Teilt aus. Lacht und spricht mit uns. Im grünen Garten die Synagoge. Ihre Pforten sind geöffnet. Wir betrachten die Innenräume. ,El-El‘ beantwortet unsere Fragen. In Kürze. Manche ausführlich.
GRAUSAM DIE SZENE: Uniformierte erscheinen eines Tages im Unterricht. Wir stehen auf. Ludwig Langstädter verabschiedet sich – für immer – und verlässt, gefolgt von bewaffneten Gestalten, den Raum. Wir – bewegungslos, hilflos, sprachlos, ratlos, fassungslos…„
Dr. Jakob Bergmann, der von 1933 bis 1936 als Kaplan in der katholischen Pfarrgemeinde Ober-Ingelheim tätig war, berichtet im Juli 1935 in einer Chronik, die im Dom- und Diözesanarchiv in Mainz aufbewahrt wird, über eine Begegnung mit Langstädter: “Ich kehre von den Ferien nach Ingelheim zurück. Aus dem Bahnhof kommt auch der Jude und Rabbiner-Vertreter Langstädter. Ich gehe mit ihm zusammen und wir unterhalten uns. Da stellt sich kurz vor Ober-Ingelheim einer vor uns hin und photographiert uns. Im ‚Stürmer‘ August (19)35, Nr.34 kam dann unser Bild mit der Überschrift: „Rabbiner und Kaplan! Nachkommen der Christusmörder und Verkünder des Evangeliums in gleicher Front“ (Ich hab das Bild!!). Darunter: „Auf dem Bilde sehen wir den Rabbiner der Ingelheimer Judengemeinde Langstädter mit dem Ober-Ingelheimer Kaplan Bergmann auf dem Heimweg vom Bahnhof Ingelheim. In Ingelheim macht man sich seine Gedanken darüber: der Prediger der Nachkommen der Christusmörder in Begleitung eines Priesters, der das Evangelium predigt. Der Herr Kaplan predigt aber auch den Hass gegen das neue Reich und so passen sie zusammen. Der Rabbiner und der Kaplan.“
Das Foto von Ludwig Langstädter und Kaplan Dr. Jakob Bergmann wurde 1935 im “Stürmer” abgedruckt.
Langstädter und Bergmann hatten den gleichen Heimweg vom Bahnhof aus nach Ober-Ingelheim. Sie werden aus dem gleichen Zug ausgestiegen und die Bahnhofstraße nach Ober-Ingelheim hinauf gelaufen sein. Wahrscheinlich ergab sich diese Begegnung zufällig und Bergmann sah es als einen Akt der Höflichkeit an, zusammen den Heimweg anzutreten. Ein Fotograf verdiente mit dem Foto sein Geld und der “Stürmer” bediente sich für seine Propaganda mittelalterlicher antijüdischer Elemente, die damals in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreitet waren, um den Juden und den Katholiken zu verunglimpfen. Bergmann fährt fort, dass er wegen seines Verhaltens von der Polizei vorgeladen wurde. Wie aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, scheute er sich auch weiterhin nicht, den Kontakt zu Langstädter zu halten. Der Zeitungsartikel aus dem Stürmer hing lange rot umrandet im Schaukasten der NSDAP. Im August 1935 schrieb Bergmann, dass “Helden der Bewegung” den schon älteren Herrn Langstädter blutig geschlagen hatten. Daraufhin hatte er ihm einen Besuch abgestattet und ihm seine Teilnahme bezeugt und ihm gesagt, dass er die diese Brutalitäten entschieden verurteilt und mit ihm fühlt.
Pogrom und Vernichtung
Es ist nicht erwiesen, ob die Eheleute Langstädter während des Pogroms nohc in Ingelheim waren. Laut Aufzeichnungen im Einwohnermeldeamt meldeten sie sich bereits zum 7. November ab. Ein Zeuge erklärte in einer späteren Vernehmung dazu, dass ein Teil der Angreifer am 10. November in die Wohnung Langstädters eindrang ung dort alles kurz und klein schlug und das Mobiliar teilweise zum Fenster hinausgeworfen wurde. Das Ehepaar zog jedenfalls im November nach Mainz in die Untere Zahlbacher Str. 11, wahrscheinlich in die Wohnung von Leopold und Paula Krauskopf auf dem jüdischen Friedhof. Paula Krauskopf war die Schwester von Elisabetha Langstädter. Leopold Krauskopf war dort Friedhofsverwalter.
Elisabetha Langstädter musste 1939 ihr Elternhaus am Ober-Ingelheimer Markt verkaufen. Die Ingelheimer Zeitung berichtete darüber wie immer, wenn ein jüdisches Haus an „Arier“ verkauft wurde. Kurz wurde mitgeteilt, wer das Anwesen erwarb. Der Kaufpreis wurde in diesem Fall nicht genannt.
Von Mainz aus wurden Louis Ludwig und Elisabetha Langstädter im gleichen Transport wie Leopold und Paula Krauskopf, am 30. September 1942 deportiert. In der Sprache der Nationalsozialisten hieß das: “Wohnsitzverlegung nach dem Generalgouvernement” (laufende Nummern 697 und 698). Langstädters werden seitdem vermisst. Wahrscheinlich wurden sie im Vernichtungslager Treblinka ermordet.
Auf der Gedenktafel am Synagogenplatz und durch Stolpersteine vor ihrem letzten Wohnsitz in Ingelheim wird ihrer gedacht.
Weitere Informationen siehe in: Hans-Georg Meyer: Sie sind mitten unter uns. S. 122 und 369.
Die Familie Kahn, Langstädter, Krauskopf
Nur ein Ehepaar der Elterngeneration konnte sich retten. Vier der fünf Kinder konnten ebenfalls Deutschland rechtzeitig verlassen. Das Schicksal von Kurt Langstädter ist unbekannt.
Familie Kahn, Neuweg 1
Rieke Kahn
Rieke Kahn, geb. Fränkel, war die Frau des Viehhändlers Salomon Kahn (Familienliste Nr. 133), der im Volksmund „Kuh-Kahn“ genannt wurde. Familie Kahn wohnte im Neuweg 1. Salomon Kahn war bereits 1915 im Alter von 54 Jahren verstorben. Sein Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in der Hugo-Loersch-Straße. Rieke Kahn muss Ingelheim vor 1939 verlassen haben. Sie flüchtete nach Paris. Ihre Tochter Elisabetha Langstädter verkaufte im Januar 1939 ihr Elternhaus im Neuweg 1 an Familie Winternheimer. (Ingelheimer Zeitung vom 25. Januar 1939, Stadtarchiv Ingelheim am Rhein). Mehrere Familienmitglieder hielten sich bereits in Frankreich auf: ihr Sohn Harry Kahn und ihre Enkelin Lotte Krauskopf, Tochter von Leo und Paula Krauskopf. Die 73-Jährige Rieke Kahn nahm sich in Paris das Leben. Sie wird nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris im Mai 1940 keinen Ausweg mehr gesehen haben.
Leo und Paula Krauskopf
Paula Krauskopf geb. Kahn (Familienliste Nr. 150), geb. am 17. Juni 1899 in Ober-Ingelheim, war die jüngere Schwester von Elisabetha Langstädter. Sie heiratete am 4. Mai 1921 in Ober-Ingelheim Leo(pold) Krauskopf, geb. am 25. Dezember 1895 in Bödigheim/Odenwald. Er war Verwalter des jüdischen Friedhofs Mainz, Untere Zahlbacher Straße 11. Wahrscheinlich lebte das Ehepaar zunächst in Ober-Ingelheim. Ihre Tochter Lotte wurde 1922 hier geboren.
Paula und Leo Krauskopf wurden zusammen mit ihrem Schwager Louis Ludwig und ihrer Schwägerin Elisabetha Langstädter am 30. September 1942 ins Generalgouvernement/Polen deportiert. Seither werden sie vermisst. Sie wurden wahrscheinlich im Vernichtungslager Treblinka ermordet.
Die Tochter Lotte überlebte
Lotte Krauskopf, die Tochter von Paula und Leo Krauskopf, wurde am 8. April 1922 in Ober-Ingelheim geboren. Es ist nicht bekannt, wann und wie sie Deutschland verlassen konnte. Sie überlebte in Frankreich, heiratete dort einen Herrn Schmaus. Sie bekamen einen Sohn namens Patrice Schmaus. Sie lebte zunächst in Südfrankreich und später in Paris. Dort verstarb sie 1998. Ihr Ehemann und ihr Sohn lebten 2000 noch in Paris (Angaben von Hans-Georg Meyer, der Patrice Schmaus im Jahr 2000 in Frankfurt/M. begegnete).
Harry Kahn, Neuweg 1
Marx Harry Heinrich Kahn (Familienliste Nr. 133), Harry gerufen, geb. am 30. Juli 1900 in Ober-Ingelheim, war der jüngste Bruder von Elisabetha Langstädter. Seine Schulkameraden verballhornten seinen Namen in „Hering“, bzw. „Kuh-Hering“, weil er der Sohn vom „Kuh-Kahn“ dem Viehhändler Salomon Kahn war. (Vgl. Meyer 1998, S. 204, Heinrich A. Herbert: Ingelheimer Lesebuch, Ingelheim 1992, S.110). Er litt unter epileptischen Anfällen. Er zog 1916 nach Nürnberg, später nach Paris. Er wurde im Gefangenenlager Drancy 20 km nordöstlich von Paris interniert und von dort mit dem Transport Nr. 7 am 19. Juli 1942 weiter nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er wahrscheinlich ermordet.