Novemberpogrom 1938

Die Ausschreitungen in Ingelheim

Stele am Synagogenplatz, Stiegelgasse 25

Was geschah während des Novemberpogroms in Ingelheim? In diesem Jahr soll insbesondere der Menschen gedacht werden, die in dieser Nacht in Ingelheim gelitten haben und die anschließend im Konzentrationslager Buchenwald eingesperrt wurden. Das Pogrom fand in Ingelheim wie bekannt während des 10. November statt. Es war ein Donnerstag.

Die Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung der deutschen Juden fand an diesem Tag ihren ersten grausamen Höhepunkt. Angefangen hatte die Ausgrenzung schon gleich nach der Machtübernahme der NS-Diktatur im Januar 1933. Die Ingelheimer Juden waren sehr assimiliert. Die Maßnahmen der nächsten Jahre machten sie durch die Gesetzgebung zu Juden. Ob sie es wollten oder nicht. Erst Ausgrenzung durch Gesetze! Dann Vertreibung und wer nicht ging oder gehen konnte wurde ermordet. Identität wird oft von außen bestimmt, auch heute noch. Die Betroffenen können sich nicht wehren. Die Diskriminierung konnte auch in der Ingelheimer Zeitung nachgelesen werden. Immer mehr Dörfer in der Umgebung prahlten damit, dass sie „judenfrei“ geworden waren. Viele Ingelheimer verließen ihre Heimat – wenn sie das Geld aufbringen konnten, flexibel genug waren und Verwandte in anderen Ländern hatten. Wenn sie arm waren, hatten sie keine Chance, der Verfolgung zu entkommen. Unter den deutschen Juden die ermordet wurden waren viele Arme und Alte. 1933 lebten 115 Juden in Ingelheim, 1938 waren es noch 76. Viele hatten es geschafft, ihre Kinder außer Landes zu bringen. Es war schwierig, Aufnahmeländer zu finden.

Nach heutigen Erkenntnissen führte die jahrelange Hetze dazu, dass viele Parteigenossen nun die Zeit gekommen sahen, die deutschen Juden endgültig zu liquidieren.

Ausgegangen sind die Pogrome von der Regierung in Berlin, insbesondere von Josef Goebbels, jedoch gab es auch in der Provinz schon eigene Initiativen.
Es gab sog. „Rollkommandos“, welche die Initiativen entwickelten und dann zusammen mit ortsansässigen nationalsozialistischen Aktivisten gegen Wohnungen, Geschäfte und jüdische Gotteshäuser vorgingen. In Ingelheim begannen österreichische SA-Leute, die in Wackernheim stationiert waren. Es handelte sich hier um österreichische Nazis, die nach einem Putschversuch 1934 flohen und vom Deutschen Reich aufgenommen wurden. Dieses Rollkommando begann seine Untaten am 10. November 1938 um 10.00 Uhr. Anhand von Berichten der Täter und der Augenzeugen lässt sich ihr Weg gut nachzeichnen. Diese Berichte sind in den Akten der Gerichtsprozesse erhalten, die nach dem Krieg stattfanden. Das „Rollkommando“ zog auf den Marktplatz von Nieder-Ingelheim. Dort traf es sich mit den ortskundigen Ingelheimern. Nun zogen sie die Mainzer Straße hinunter und überzogen ein jüdisches Haus nach dem anderen mit Terror. Alfred Mayer in der Mainzer Straße 64, direkt unterhalb des Marktplatzes, war der erste. In der Regel verwüsteten die Unholde die Wohnungen. Interessanterweise ließen sie die Malzfarbrik links liegen. Allerdings wurde auch Salomon Löwensberg verhaftet und im KZ Buchenwald interniert. Das nächste Opfer war die 66 jährige Witwe Frieda Mayer. Sie lebte allein in der Mainzer Straße 29. Auch sie wurde nicht verschont. Gleich nebenan wohnte Otto Mayer mit seiner Familie. Der zuständige Ingelheimer Gestapochef fordert dazu auf, ihn tüchtig zu verprügeln. Anscheinend hatte er eine persönliche Rechnung offen. So lässt sich der Weg weiter verfolgen. Die Untaten können hier gar nicht alle geschildert werden. Manches ist auch nicht genug dokumentiert. Der Mob malträtierte die alleinstehende Lina Koch, drang beim Metzger Strauß ein und zogen weiter in die Bahnhofstraße. Hans Neumann schilderte bei seinem Besuch hier, dass er die Wohnungseinrichtung auf der Straße fand, aus dem ersten Stock hinuntergeworfen, als er aus Wiesbaden von der Arbeit heimgekehrt war. Die Zerstörer zogen die Bahnhofstraße hinauf nach Ober-Ingelheim. Hier suchten sie die Familie Wertheim/Oppenheimer in der Heimesgasse heim: Was wird die 3-jährige Renate gedacht haben, als die Horde eindrang. Laut Zeitzeugenberichten versteckte sich die Familie im Garten.Weiter ging es zur Synagoge. Hier war ein Trupp, angeführt von einem Ingelheimer Lehrer, den ganzen Tag damit beschäftigt, die Synagoge niederzulegen. Auch aufgehetzte Schüler waren dabei. Vorne befand sich die Wohnung von Ludwig Langstädter und nebenan das Schuhgeschäft Schäfer und Raphael. Auch hier wurde alles kurz und klein geschlagen. Desgleichen beim Kolonialwarenhändler Eisemann gleich um die Ecke. Sogar die Familie Löb wurde nicht verschont, die doch recht versteckt im Oberen Zwerchweg wohnte.

Es fragt sich, was die Menschen dazu bewegte, mit dieser ungeheuren Zerstörungswut vorzugehen. Nicht genug damit setzte sich ein Trupp auf einen Lastwagen und randalierte in Jugenheim und am Abend in Bingen. Nach allem was wir wissen wurden acht Männer verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht: Salomon Löwensberg, Alfred Mayer, Otto Mayer, Karl Neumann und sein Sohn Hans, Erich Oppenheimer, Sally Strauß und Josef Wertheim. Insgesamt wurden dort ca. 10.000 Männer für ein paar Wochen interniert. Es sollte Druck aufgebaut werden, um sie zur Ausreise zu bewegen. Sie wurden dort für ein paar Wochen festgehalten.

Unter den 10.000 Inhaftierten im KZ Buchenwald waren auch mindestens acht Ingelheimer

Salomon Löwensberg konnte noch 1941 in die USA emigrieren. Alfred Mayer 1940. Otto Mayer kam 1942 im Emslandlager Neusustrum um. Karl Neumann zog zunächst nach Wiesbaden. Viele Juden zogen in größere Städte, weil sie sich in der Anonymität mehr Sicherheit erhofften. Sein Sohn Hans entkam 1939 in die USA und besuchte mehrere Male Ingelheim. Erich Oppenheimer floh in die USA, kam nach dem Krieg zurück und starb 1994 in Bingen. Sally Strauß floh in die USA und starb 1992 in Chicago. Joseph Wertheim wurde mit seiner Frau Anna und seiner Tochter Renate und seiner Schwiegermutter Sophie Oppenheimer am 20. September 1942 in den Osten deportiert und wurde mit großer Wahrscheinlichkeit direkt in das Vernichtungslager Treblinka gebracht und dort sofort durch Gas ermordet. Viele von ihnen haben keine Angehörigen, die sich ihrer erinnern können. Deswegen übernehmen Bürger in Ingelheim diese Aufgabe. In diesem Jahr wurden die Stolpersteine von vielen verschiedenen Menschen gereinigt und mit Blumen und Kerzen geschmückt. Wir wollen, dass in unserer Stadt niemand mehr zu einem Fremden gemacht und ausgegrenzt oder sogar abgeschoben wird. Auch dafür stehen unsere Initiativen.

Stolpersteine für Familie Wertheim vor der Heimesgasse 6
Die Ingelheimer Synagoge 1930 Quelle: Ausschnitt aus Luftbild Nr. 10198 Ober-Ingelheim. Quelle: Strähle Luftbild
Die Ingelheimer Synagoge 1930 Quelle: Ausschnitt aus Luftbild Nr. 10198 Ober-Ingelheim. Quelle: Strähle Luftbild

 

Hans Harry Neumann erzählt 2008 vor einer Klasse der Kaiserpfalz Realschule plus.

Zeitzeugenaussage Neumann Hans Pogromnacht Ingelheim

Siehe auch eine Powerpointpräsentation. Sie darf gerne für nichtgewerbliche Zwecke eingesetzt werden.

Klaus Dürsch, 2020
Vorsitzender des Deutsch-Israelischen Freundeskreis Ingelheim e.V.
Das Buch von Hans-Georg Meyer: Sie sind mitten unter uns, 1998, ist nach wie vor eine wichtige Quelle für die Geschichte der Ingelheimer Juden. Christian Müller legte in diesem Jahr dem Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vor eine Masterarbeit über die Novemberpogrome in Rheinhessen vor. Ihm verdanke ich wertvolle Hinweise.
Inzwischen ist sie als Buch veröffentlicht unter dem Titel: Die Novemberpogrome in rheinhessischen Landgemeinden – eine vergleichende Regionalstudie. Worms-Verlag 2022.

Ismar Freund in Buchenwald- ein Augenzeugenbericht

Ismar Freund, Augenzeugenbericht aus Buchenwald

November 1938

Ismar Freund hörte am Mittwoch, den 8. November 1938 abends von der Ermordung des Legationsrats in Paris durch einen befreundeten Stadtrat. Seine Schwiegertochter rief ihn aus Erfurt an und berichtete, dass sein Sohn und andere Mitglieder der jüdischen Gemeinde dort verhaftet worden seien. Freund beschloss, nach Erfurt zu reisen. Am nächsten Morgen, dem 9. November 1938 machte er sich mit dem Zug auf den Weg. In Erfurt wurde er bereits von der Geheimen Staatspolizei beschattet und aus einer Telefonzelle heraus verhaftet. Zunächst wurde er in das Erfurter Staatsgefängnis gebracht und am nächsten Morgen, dem 10. November 1938, in einem großen Polizeiauto in das Konzentrationslager Buchenwald.

Viele, die während der Novemberpogrome verhaftet worden waren, sprachen nicht darüber. Sie werden aber Ähnliches wie Ismar Freund erlebt haben. Deshalb hier ein Auszug aus seinem Bericht, um auch den anderen eine Stimme zu verleihen.

„Das Auto hielt. Wir befanden uns am Portal des Lagers Buchenwald. Einzeln sprangen die Insassen vom Auto herab. Wir wurden von einem Haufen von SS-Leuten in Empfang genommen, die augenscheinlich eigens zu diesem Zwecke dort postiert waren. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen, und die uniformierten Kerle in ihren hohen Schaftstiefeln, lang aufgeschossene junge Schnösel im Alter von 20 bis 25 Jahren, pflanzten sich vor uns auf. Die typischen, starren, geist- und seelenlosen Gesichter der Nazijugend.
Mann kann auch Brutalitäten verstehen, wenn sie im Affekt verübt werden. Aber, was sich jetzt hier abspielte, geschah ohne eine Spur von Gemütsaufwallung. Neben mir zur Seite stand ein Miteingebrachter von etwa 30 Jahren. Eiskalt und hundeschnäutzig stellte sich einer der Kerl vor ihm auf.
‚Oh, das ist ja eine richtige Judenvisage‘, rief er, und mit geballter Faust schlug er dem Mann ins Gesicht, dass er taumelte, dann stellte er ihm ein Bein, dass er zu Boden stürzte. Dann trampelte er auf ihm herum, sodass ich nicht glaubte, er würde noch einmal aufstehen. Er tat es dennoch; offenbar war er ohne schwere Verletzungen davongekommen.

Zu meiner anderen Seite stand ein mit uns gekommener junger Bursche von etwa 17 Jahren. Ein anderer Nazischnösel pflanzte sich vor ihm auf, starrte ihm höhnisch ins Gesicht und redete ihn an: ‚Das ist einer von der Sorte, die den Herrn von Rath ermordet haben.‘ Und die Schläge hagelten links und rechts auf den schmächtigen Jungen nieder.
Ich selbst blieb durch ein Wunder unangefochten. Da kam ein Trupp auf uns zu. In der Mitte ein seltener Offizier mit grauen Schnurrbart, den grauen Offiziersmantel über die Schultern gelegt, dem Anschein nach der Lagerkommandant, begleitet von seinem Gefolge. Er kam geradewegs auf mich zu und fragte mich:
‚Wie heißen Sie? Was sind Sie von Beruf?‘ Ich erwiderte ihm, dass meine Tätigkeit zur Zeit hauptsächlich in der Bemühung und Auswanderungsmöglichkeiten der deutschen Juden bestehe. …
Der Offizier drehte sich zu seiner Begleitung um und meinte: ‚Der Mann hilft uns ja‘ Dann zu mir gewendet: ‚Wollen Sie heraus?‘ Ich dachte an die Danaer(?), die Geschenke bringen, und an manches, was ich über solche gelesen hatte, die von den Nazis ‚auf der Flucht‘ erschossen worden waren. Ich hielt es deshalb für richtiger, nicht zu antworten und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Noch eine Weile, und das Tor des Lagers öffnete sich. Dieses lag auf einer Gebirgshöhe mitten im Walde, rings umgeben von einem hohen Stacheldraht. In kurzen Abständen umsäumten es Wachttürme. Auf der Brüstung eines jeden, die einen weiten Ausblick gewährte, stand ein SS-Mann am schussbereiten Maschinengewehr. Ein Entfliehen aus diesem Lager war unmöglich. Schon der Gedanke daran musste absurd erscheinen. Die Posten auf den Türmen beherrschten das Feld. Ein Überklettern der Drahtverhaue war ausgeschlossen. Mit dem Einbruch der Dunkelheit wurden diese zudem elektrisch geladen. Jede Berührung des Drahtes bedeutete deshalb sofortigen Tod.

In das Lager hineingelassen, mussten wir uns in Trab setzen. Ein Gehen gab es im Lager nicht. Jede Bewegung musste sich um Trab-Trab vollziehen auf einem Boden, der lehmig und von der Novembernässe aufgeweicht war, dass man jeden Moment Gefahr lief, mit Stiefeln im Kot stecken zu bleiben. Von diesem Traben war niemand ausgenommen. Auch alte Leute nicht. Auch schwächliche nicht, denen man ansah, dass sie es auch mit Aufbietung aller Kräfte kaum schaffen konnten.

Als wir eintrafen, waren bereits Tausende von Juden im Lager eingebracht. Sie standen auf einem großen freien Paradeplatz, der vor dem ebenerdig sich hinziehenden Verwaltungsgebäude in Reih und Glied. In der Mitte davon befand sich das Eingangsportal. Der Paradeplatz war im Gegensatz zu dem klebrigen Lehmboden des übrigen Lagers mit Schotter belegt. Auf diesem Platz standen, als wir eintrafen an die 8.000 Menschen, in langen Reihen ausgerichtet. Viele trugen noch die Spuren der vorangegangenen Misshandlungen bei Verhaftung und auf dem Transport im Gesicht. Das Blut klebte ihnen in den Haaren, lief ihnen über das Gesicht und bedeckte den Hinterkopf. Die Augen waren geschwollen und blutunterlaufen. Wir traten gleichfalls in Reih und Glied. Immer neue Züge von Ankömmlingen trafen ein. Man merkte, wenn man sie sah, dass die jüdische Jugend bereits zum größten Teil außer Landes war. Was hier ankam, waren meist ältere Leute, viele ohne sportliche Haltung. Es war nicht selten ein komischer Anblick. Wie sie so angetrabt kamen, mit ihrem Bündel in der Hand, manche unbeholfen, manche auf krummen Beinen daherwatschelnd, so machte das den SS-Leuten offenbar ganz besonderen Spaß.

Alles, was ankam, musste sich sofort einreihen, und standen die Tausende, ohne sich rühren zu können, auf ihrem Platze: diejenigen, die schon vorher eingetroffen waren, seit dem frühen Morgen, und erst lange nach Sonnenuntergang kam das befreiende Kommando: ‚Abtreten!‘
Durch die Reihen schritten gleich Halbgöttern die jungen SS-Schnösel immer auf dem Sprunge zu irgendwelchen Misshandlungen der Wehrlosen. Dort gab weil jemand nicht genug Reihe hielt, einen Faustschlag in den Rücken, hier einer ins Gesicht. Hinter den Reihen gingen ‚Capos‘, alte Häftlinge, die schon seit Jahren im Lager und zu gehobenen Posten avanciert waren, geschäftig hin und her und überboten mit sichtbarer Geflissentlichkeit im Brüllen und Stupsen der Menschen die SS-Leute. Dabei begab sich jedoch etwas Merkwürdiges. Derselbe Capo, der sich soeben noch in solcher Weise ausgetobt hatte, stieß, sobald kein SS-Mann in Hörweite war, mit unterdrückter Stimme Reden aus etwa wie: ‚Kerls, beißt die Zähne zusammen! Dass keiner schlapp macht! Wir haben das alles auch durchmachen müssen! Nach drei Tagen wird es besser!‘

Auf einem Balkon des Verwaltungsgebäudes, über dem Eingangstor, standen einige SS-Leute, neben ihnen gewaltige Lautsprecher. Durch diese hallten die Reden und Kommandos über den weiten Platz. Die Namen wurden aufgerufen. Das ging so bis zum Einbruch der Dunkelheit. Nur ein kleiner Teil konnte aufgerufen werden. Dann wurde sie Verlesung abgebrochen.

Es war ein ungewöhnlich herrlicher Novembertag. Die Sonne strahlte und es herrschte eine fast sommerliche Wärme. Durch meinen Kopf schoss der Gedanke; ‚Und wenn der Wagen strömte und diese Menschen stundenlang dem ausgesetzt wären?‘

Im Laufe des Nachmittags kamen immer neue Trupps an, aus den verschiedensten Teilen des Landes. Aus dem Thüringischen, vom Rhein, aus Sachsen, aus Schlesien, aus Breslau, aus Leipzig,. Aus Frankfurt am Main. Neben dem Paradeplatz, auf dem wir aufgestellt waren, etwa 100 Meter entfernt, befanden sich die Baracken, die uns aufnehmen sollten, (5) an der Zahl. Jede schätzungsweise 10 Meter breit und (50) Meter lang (die Zahlen sind schlecht zu lesen.) Jede darauf berechnet, zwischen 2-3000 Menschen aufzunehmen. Alle roh gezimmert und improvisiert. An der fünften wurde, während wir in Reih und Glied standen, noch gebaut, sie sollte bis zur Nacht fertig sein. Zwischen den einzelnen Baracken ein Zwischenraum von etwa 5 Metern. Auf der einen Seite ging die Schmalseite bis auf kaum 5 Meter Entfernung an das Stacheldrahtgitter heran. Auf der anderen Seite war in einem Abstand von etwa 10 bis 15 Meter ein einfaches Drahtgitter gezogen, das di e Judenbaracken von den übrigen im Lager und dem Paradeplatz trennte. Ein kleines Gatter, durch das etwa 2 Menschen nebeneinander hindurchsehen konnten, schloss den besonderen Judenpferch ab. Der Raum zwischen dem Gatter und den Baracken, etwa 2 Morgen groß, war der ganze Platz, auf dem etwa 10.000 Menschen zusammengepfercht waren.
Die Dämmerung fiel hernieder. Die alten Häftlinge kamen truppweise, immer in Gliedern von 2 Mann, von der Arbeit aus dem Steinbruch heim. Sie trugen Häftlingskleidung mit verschiedenen Abzeichen, die einen rote Striche auf dem Rücken, die anderen grüne oder gelbe Flecke, wieder andere einen gelben Magen-David (Davidstern) usw. Jedes Zeichen hatte eine besondere Bedeutung. Das eine kennzeichnete seinen Träger als politischen Häftling, die anderen waren Homosexuelle, die Dritten arbeitsscheu und asoziale Elemente. Das Magen-David kennzeichnete überdies den Träger als Juden.

Die Häftlinge kamen aus den Steinbrüchen und schleppten Steine in das Lager. Man hatte den Eindruck, dass sie sich eine gewisse Technik für ihre Arbeit zurechtgelegt hatten, und die Last unter der sie keuchten, einigermaßen erträglich war. Sie wohnten in den Baracken, die für die ständigen Häftlinge bestimmt waren, und die sich zu einer kleinen Stadt zusammenschlossen. Diese Baracken machten von außen einen recht schmucken und einladenden Eindruck. Es waren einstöckige, saubere, grüngestrichene langhingestreckte Blockhäuser aus Holz, die auch innen sauber gehalten waren und einen behaglichen Eindruck machten. Sie waren geheizt, enthielten große Räume mit gekachelten Waschgelegenheiten, Wasserleitungen und fließendem Wasser. Sie wirkten gegenüber den rohgezimmerten, unstabilen Holzbaracken für die 10.000 eingebrachten Juden geradezu als Villen.

Die Neueingegliederten hatten sich zunächst einer Prozedur zu unterziehen. Einige Dutzend der alten Häftlinge in Haftkleidung kamen mit Haarschneidemaschinen an und jeden der Neuangekommenen wurde der Kopf kahl geschoren und der Bart abrasiert. Von den Capos waren die Neuankömmlinge darauf aufmerksam gemacht worden, und einer gab es dem Anderen weiter, dass niemand seinen Hut aufbehalten dürfe. Wer es aus Unkenntnis dennoch tat, dem wurde er schnell von einem SS-Mann vom Kopf geschlagen. Auch Kragen und Krawatten waren verpönt und mussten schleunigst in den Taschen verschwinden. So hatten alle mit verblüffender Schnelligkeit eine Metamorphose durchgemacht, die sie aus ihrem bisherigen bürgerlichen Zustand dem neuen Milieu anpasste. Ohne dass sie noch Häftlingskleidung erhalten hatten, waren sie in ihrer neuen Eigenschaft schon äußerlich kenntlich gemacht, abgesehen von den blutigen Zeichen, die sie sonst noch von den vorangegangenen Ereignissen mitgebracht hatten.

Dämmerung lag bereits auf dem Platze. Noch immer standen die Menschen in Reih und Glied, und jetzt erlebten sie ein Schauspiel, das ihre Nerven auf eine starke Probe stellte. Die Lagergepflogenheiten wurden ihnen anschaulich demonstriert. Die üblichen Strafen wurden vor versammeltem Kriegsvolk an einigen Häftlingen executiert. Irgendwo, vorne, bei der Entfernung für die weiter hinten stehenden nicht zu sehen, stand ein Bock. An diesem wurden Häftlinge festgebunden, die die übliche niedrigste Strafe zu empfangen hatten. Es waren dies die berüchtigten 25 Hiebe. An jedem Tage wurden sie aus Anlass der Ermordung des Herrn von Rath, auf 40 erhöht. Man hörte ein Pfeifen und ein Klatschen, das über den (..) Haus hinhallte, und klang wie das Aufschlagen einer Kugel. Lange Abstände zwischen Schlag und Schlag. In der Dämmerung sah man die lange Peitsche in Windungen durch die Luft sausen, und man empfand förmlich die sadistische Lust, mit der der SS-Mann, der die Peitsche schwang, jeden einzelnen Schlag auskostete. Der Arzt stand daneben und überwachte mit deutscher Gründlichkeit die Prozedur. Um nach jedem Schlag festzustellen, ob der Delinquent ohne Lebensgefahr noch den nächsten vertragen konnte. Außer dem Pfeifen des Peitschenriemens in der Luft und dem Klatschen des Niederschlagens hörte man keinen Laut. Auch nicht von dem Opfer. Denn dieses hatte einen Knebel im Munde, der es am Schreien hinderte.

Schließlich nahm auch dieser Tag ein Ende.
Ich gehörte eigentlich nicht in dieses Lager. Denn für Berlin war Oranienburg zuständig, ich war nur, weil ich in Erfurt verhaftet worden war nach Buchenwald gekommen. So war ich ein Einzelgänger ohne Landsmannschaft und quartierte mich bei den Breslauern ein, wo ich viele Bekannte antraf. Die Baracken, die je 2 – 3.000 fassten, waren schmal, vielleicht etwa 10 Meter breit und langgestreckt wie ein großer Korridor. Der einzige Eingang befand sich in der Mitte und war (…) Meter breit. Im Fall einer Panik war man in einer Mausefalle. Die Baracken glichen einem Tuchlager mit langen Reihen von in den Kabinen aufgeteilten Holzregalen, die in vier Etagen übereinander standen. Jeder Verschlag war gerade groß genug, um hineinkriechen und sich ausstrecken zu können.

In der Nacht wurde es unbehaglich. Unter den Menschen befanden sich viele mit durch die Erlebnisse zerrütteten Nerven. Plötzlich schrie jemand: ‚Feuer!‘ Nur mit Mühe konnte eine Panik vermieden werden. Am nächsten Tage wurde eine Anzahl Menschen aus der Baracke entfernt, weil sie den Verstand verloren hatten. Sie wurden in einem Küchenraum untergebracht. Allmählich wuchs die Zahl, aus den verschiedenen Baracken, auch etwa 100 an.

Am nächsten Morgen erklärten die Wachtposten, dass sie, falls es in der Nacht wieder Störungen geben sollte, mit Maschinengewehren in die Baracken hineinschießen würden.

Am Vormittag wurden die Baracken entleert und die Menschen – zum Glück war es wieder herrliches sonniges Wetter – zur Parade antreten. Dort gab es ein neues Schauspiel. Wieder erschien eine Anzahl junger Schnösel in ihren schwarzen SS-Uniformen mit den hohen Schaftstiefeln und begann, geheimnisvolle Vorbereitungen zu treffen. Nägel wurden in Bäume geschlagen, dann wurde ein seltener Mann mit einem roten Vollbart, nur mit der Hose bekleidet, im offenen Hemde hereingebracht. Seile wurden um die Nägel an dem Baume geschlungen und der Mann an den Handgelenken hochgezogen. Während er dort hing, ging von Zeit zu Zeit einer von den schwarzuniformierten Kerlen an ihm vorbei, schlug ihm mit der geballten Faust ins Gesicht und drehte diese bald nach links, bald nach rechts. … Wir Tausende standen in Reih und Glied da, und mussten das mit ansehen. Ich fragte mich, wie lange ich dies wohl könne, ohne dass mir das Blut in den Adern erstarre. Aber auch diese scheinbare Ewigkeit nahm ein Ende, man band den Mann los, et taumelte – aber – zu meiner Verwunderung lebte er. Man packte ihn von neuem und wiederholte mit ihm dieselbe Prozedur an einem anderen Baum. Was er verbrochen hatte, wusste niemand. Aber wir erfuhren, dass er der Vater eines anderen Lagerinsassen war, eines jungen Predigers in einer kleinen Gemeinde im Harz, der das Alles mitansehen musste.
Am darauffolgenden Morgen fand man ihn tot in dem elektrisch geladenen Drahtgitter, in das er sich in der Nacht gestürzt hatte.
Einen anderen Häftling fand man ersäuft in der Latrine, in der er den Freitod gesucht hatte.

Groß war die Zahl der Schwerkranken, die mangels Medikamenten, ganz besonders Zuckerkranke, denen es an Insulin fehlte, in ihren Verschlägen wie die Fliegen dahinstarben.
Die Verpflegung, bestehend aus einer Suppe mit Fleisch, von den Häftlingen in großen Kesseln hereingeschleppt, wurde als schmackhaft bezeichnet. Die Körbe von Brot freilich waren, als die Träger stolperten, in den lehmigen Morast gefallen.

Aber was machte das schon aus?
Ich hielt es für selbstverständlich, dass die Insassen des Lagers ohne jedes religiöse Bedenken das trefere (nicht nach den jüdischen Speisevorschriften zubereitete) Essen genießen durften. Ich selbst konnte jedoch, trotz aller vernunftgemäßen Erwägungen, den Ekel nicht überwinden und begnügte mich mit trockenem Brot. In den späten Abendstunden kamen mitleidige Seelen zu mir und man steckte mir Käse, Keks und andere Delikatessen zu. Vor allem konnten sich die Wiener an Hilfsbereitschaft nicht genugtun. Sie waren schon seit Wochen unter Führung des Präses der Kultusgemeinde im Lager, hatten sich ‚zugewöhnt‘ und genossen gewisse Freiheiten, so wie die Möglichkeit, sich etwas an Nahrungsmitteln zu kaufen. Von Zeit zu Zeit brachten sie eine ganz besondere Kostbarkeit, einen Schluck guten Wassers, das sie aus der Küche verschafft hatten.

Am ersten Morgen nach meiner Einlieferung suchte ich zunächst meinen Sohn ausfindig zu machen, um dessentwillen ich ja überhaupt das Freiquartier Buchenwald bezogen hatte. Bald war es mir auch gelungen, den Standort der Erfurter zu erkunden. Nach nicht allzu langer Zeit war auch mein Sohn verständigt und zu mir gebracht. Ich traf ihn in einem grauenhaften Zustande an: Die Haare blutdurchtränkt, das Gesicht zerschlagen und mit Beulen überdeckt.
‚Vater-‘ rief er mir schon von weitem zu – ‚es ist ja alles schon wieder gut‘.
Man hatte den Menschen in Erfurt fürchterlich mitgespielt. Die Mitglieder der Gemeinde, des Vorstandes und der Repräsentanten Versammlung, sowie der Rabbiner, waren in der Turnhalle einer Schule zusammengetrieben worden. Dort hatten die Nazis sie wie in einer Zirkusarena mit Knüppeln im Kreise herumgejagt. Wer fiel, auf den hatte man blutig eingeschlagen.
Ich siedelte nunmehr zu meinem Sohn in die Baracke der Erfurter über, sodass wir Beide, Verschlag neben Verschlag, wenigstens beisammen waren.
Eines Nachts – es war, nachdem der junge Prediger seinem Leben ein Ende gemacht hatte, erklärte mein Sohn; ‚Vater, wir wollen uns jetzt verabschieden, Ich möchte nicht, dass wir den nächsten Tag noch miteinander verbringen.‘
Ich fuhr ihn an: ‚Wie kannst Du nur so kleinmütig sein. Ich habe mir mein Ende auch anders gedacht. Wie Gtt (fromme Juden schreiben den Begriff nicht aus) will, so wird es enden‘.

Auch sonst galt es, die Menschen, die vielfach jeden Halt verloren hatten, seelisch aufzurichten. Beim Appell stand neben mir ein süddeutsches Männlein, dem vor Angst förmlich die Knie schlotterten. Ich schrie ihn an:
‚Was bibberst Du? Hast Du einen Röderheimer Siddur (ein Gebetbuch) zuhaus? Hast Du schon einmal das Hallel gesagt?‘ Lo amut, ki echjeh, wassoer maassejah‘ (ich werde nicht sterben, sondern leben und von Gottes Taten erzählen.) Warum hast du kein Gottvertrauen? Was zittert du?‘

In meinem Barackensektor richtete ich einen täglichen Gottesdienst ein. Bald folgte man in verschiedenen anderen Teilen des Riesenraumes meinem Beispiel. Es fehlte nicht an einem Glaubensbruder, der mir erklärte, er werde mich bei der Lagerleitung denunzieren, was ich gelassen hinnahm. Ein Fabrikant aus Mitteldeutschland, der von seinem Verschlage aus meinen Vortrag der Gebete folgte, ein Gebetbuch gab es natürlich nicht und ich musste die Gebete aus dem Gedächtnis rezitieren – sagte mir einmal:

‚Ich bin nicht religiös. Seit 20 Jahren habe ich keine Synagoge mehr besucht. Ich verstehe kein Wort Hebräisch. Aber zum ersten Mal in meinem Leben habe ich jetzt empfunden, was Andacht ist.‘

In der nächsten Nacht gab es wieder Nervenzusammenbrüche und Unruhe in der Baracke. Ein in unserer Nähe liegender Landgerichtsrat aus Mainz kam zu mir und sagte:
‚Man müsste die Leute doch zur Ruhe bringen. Es besteht sonst die Gefahr, dass die SS-Posten ihre Drohung wahrmachen und mit Maschinengewehren in die Baracke schießen‘

Ich stand auf und hielt an die Insassen eine Ansprache. Ich forderte sie auf in jedem Falle, was immer kommen möge Würde und Haltung zu bewahren. Man dürfe den Folterknechten draußen nicht die Möglichkeit geben zu glauben, dass mit Recht den Juden geschehe, was ihnen angetan wurde. Ich machte die Menschen auf die Drohungen der SS-Posten aufmerksam und die Gefahr, dass diese sie ausführten, wenn nicht unverzüglich völlige Ruhe im Lager einträte. Das wirkte. Die Menschen beruhigten sich, und die Nacht verlief ohne weitere Störungen.

13
Im großen Ganzen wurde die Lage dadurch einigermaßen erträglich, dass die SS-Leute die Drahtpforte, die von dem jüdischen Lager zu den übrigen Baracken führte, schlossen und die Juden unter sich ließen, sodass sie innerhalb des kärglichen Raumes, der ihnen zur Verfügung stand, sich frei bewegen, die einzelnen Gruppen untereinander besuchen, alte Bekannte ihre Bekanntschaften erneuern konnten. Dazu kam, dass das Wetter für die Jahreszeit ungewöhnlich mild und schön war und den Aufenthalt im Freien gestattete; es kam weiter hinzu, dass die Plötzlichkeit der ganzen Novemberaktion, die mangelnde Vorbereitung des Lagers auf einen solchen Massenzustrom, der Lagerleitung die Sache über den Kopf wachsen ließ. Auch wusste man offenbar noch nicht, was endgültig über die neuen Insassen bestimmt werden würde. So ließ man die Dinge bis zu einem gewissen Grade laufen. Insbesondere wurde den neu eingebrachten Insassen keine Zwangsarbeit in den berüchtigten Steinbrüchen auferlegt, auch keine weiteren Appelle mehr veranstaltet, sondern man überließ die Gefangenen sich selbst und ihrem Schicksal.
An grauenhaften Erlebnissen fehlte es also nicht. Unvorstellbar waren die Abortverhältnisse. Große Latrinen mit improvisierten Holzgeländern aus Baumstämmen wurden ausgehoben, und dorthin marschierten die Insassen, die sie in Anspruch nehmen wollten, in Trupps, militärisch geordnet, unter einem Führer. Dieser salutierte bei der Aufsicht, Hand an der Mütze:
‚Melde gehorsamst! 20 Mann zur Latrine!‘
An dramatischen Zwischenfällen fehlte es nicht. Einmal hatten die Gefangenen Speisereste, Zigarettenschachten, u.a. weggeworfen und das Lager verunreinigt. Es kam Befehl heraus, dass, falls nicht binnen einer bestimmten Frist alles in Ordnung gebracht sei, wahllos eine Anzahl von Insassen ausgepeitscht werden würde. Zu denjenigen, die sich an den Aufräumarbeiten beteiligten, und zur Auspeitschung bestimmt waren, gehörte auch mein Sohn.
Einer der Wiener Herren, die sich besonders um mich bemüht hatten, intervenierte zu seinen Gunsten bei dem jüdischen Häuptling der Wiener, die mit der Überwachung der Menschen betraut waren. Da zudem die Reinigung des Lagers rechtzeitig beendigt war, wurde von der beabsichtigten Exekution Abstand genommen.

14

Wir waren von der Außenwelt natürlich völlig abgeschlossen. Ein gewisser Kontakt wurde jedoch durch die abendlichen Nachrichten hergestellt, die der Lautsprecher verbreitete. Während ich in den ersten Tagen über unser Schicksal völlig im Ungewissen war, und niemand wußte, ob jemand das Lager lebend verlassen würde, trat allmählich eine gewisse Entspannung ein. Vereinzelte Namen wurden von der Lagerleitung bekannt gegeben von Personen, die auf irgendwelche Intervention hin, meist, weil sie für wichtige Dienste reklamiert wurden, zur Entlassung bestimmt wurden. Was in dem Lager sich abspielte, war so grauenhaft, das ich mir zunächst sagte: ‚Unmöglich können die Nazis Menschen, die dies miterlebt haben und darüber berichten könnten, in die Welt hinauslassen.‘ Nachdem jetzt überhaupt, und wenn auch nur vereinzelt, Entlassungen erfolgten, waren die Besorgnisse offenbar unbegründet. Denn ob 10 Augenzeugen oder 10.000 das Lager verließen, war letzten Endes gleichgültig.
Ein zweiter Umstand kam hinzu: Es wurden offensichtlich keinerlei Vorkehrungen getroffen, um den völlig provisorischen Charakter der ganzen Unterbringung neuer Häftlinge, ihre Beschäftigung usw. in einen Dauerzustand zu überführen. Man überließ die neuen Insassen innerhalb ihres Pferches auch weiterhin im Wesentlichen sich selbst. Das deutete auf die Möglichkeit einer Massenentlassung hin, und tatsächlich mehrten sich die Fälle der Freigabe Aufgerufener. Auch ich selbst sollte nicht allzu lange mehr darauf zu warten brauchen. Etwa 14 Tage nach meiner Einlieferung wurde ich aufgerufen und mit meine bevorstehende Entlassung bekannt gegeben. Wie ich nachher feststellte, lag der Befehl dazu schon über eine Woche vor. Aber das Drunter und Drüber im Lager war so groß, dass es eben so lange dauerte, bis alle Formalitäten erledigt waren.

Es war an einem Sonnabend, als meine Entlassung erfolgte. Die Prozedur ging in der Weise vor sich, daß die zur Entlassung Bestimmten in einen Raum versammelt und von dem Leiter der Veranstaltung instruiert wurden.
‚Kein Wort über die Vorgänge in Lager darf nach draußen verlautbart werden. Der Arm der Gestapo reicht weit. Jeden, der gegen das Verbot verstoßen wird, wird er zu fassen wissen.

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Meine Sachen, Uhr, Geld usw. die mir im Gefängnis in Erfurt abgenommen worden waren, erhielt ich ordnungsgemäß ausgehändigt. Dann öffneten sich die Pforten und bei strahlendem Sonnenschein am Sabbat-Nachmittag – ein unbeschreibliches Gefühl – sah ich mich am Waldessaum wieder in Freiheit (Es muss Samstag, der 19. November 1938 gewesen sein). Ich fuhr sofort in die Wohnung meines Sohnes, wo ich meine Frau und meine Schwiegertochter antraf. Meine Frau öffnete die Tür, erkannte mich aber in der Verwandlung zum Zuchthäusler, die ich durchgemacht hatte, den Kopf kahl geschoren , den Bart wegrasiert, nicht, hielt mich vielmehr für meinen Neffen, dem ältesten Sohn meines Bruders, des Landesrabbiners von Hannover. Ich hatte in den annähernd 14 Tagen 15 Pfund abgenommen. Das war aber eigentlich alles, was mir fehlte. Im Ganzen fühlte ich mich in bester Verfassung.
Am nächsten Tag verfehlte ich nicht, sofort einen Photographen aufzusuchen, um ein Konterfei aus dem ‚Sanatorium Buchenwald‘ der Nachwelt zu erhalten.
Als wir nach Hause zurückkehrten und Freunde und Bekannte sich teilnahmsvoll bei uns einfanden, erklärte ich:
‚Kondolenzbesuch dankend verbeten‘
Um keinen Preis hatte ich das Buchenwalder Intermezzo in meinem Leben missen mögen. Ich hätte mich geradezu geschämt, wenn mir bei meiner Stellung und bei meiner Vergangenheit das allgemeine Schicksal des deutschen Juden erspart geblieben wäre.
Dazu kam, dass die Zeit für mich in mancher Hinsicht recht lehrreich gewesen war. Einmal wusste ich jetzt aus Eigenem, was ein Konzentrationslager bedeutet, und es hätte eine bedauerliche Lücke in meinem Wissen bedeutet, wenn ich dies nicht gewusst hätte. Sodann war es für mich eine gewisse Selbstbewährung gewesen. Es ist so leicht, über andere zu urteilen, wenn man selbst von den Dingen nicht betroffen wird. Man kann gut den Anderen predigen, von ihnen Haltung und Wahrung der Würde fordern, wenn man selbst weit vom Schuss ist. Ich hatte jetzt die Dinge durchgemacht, Ich hatte die Hölle gesehen und dem Tode ins Auge geschaut. Nicht einen Augenblick .hatte ich das seelische Gleichgewicht verloren, nicht einen Augenblick mich dem Gefühl der Verzweiflung hingegeben.

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Ich nahm die Dinge mit einer Selbstsicherheit, dass sie wie die Regentropfen an einer Elefantenhaut an mir abglitte. Keinen Augenblick verließ mich das Gefühl innerer Heiterkeit und ein selbstverständliches Gottvertrauen. Ich durfte meinen Sohn zurechtweisen, als er verzweifeln wollte. Ich durfte den Menschen in der Nacht eine Rede halten und von ihnen Nahrung der Würde des Judentums und Haltung verlangen. Ich durfte ein zitterndes Menschlein anschreiben und es daran erinnern, dass es immer bete: ‚Ich werde nicht sterben, sondern leben, und von Gttes Taten erzählen.‘ Ich sah mit völliger Gelassenheit jeder Möglichkeit ins Auge. Einmal muss jeder Mensch sterben. Dem Einen fällt ein Ziegelstein auf den Kopf, ein Anderer gleitet in seiner Wohnung aus und steht nicht mehr auf. Zudem hatte ich oft in meinem Leben schon die Wahrheit des Prophetenwortes erfahren: ‚Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken‘. Schon oft hatte ich die Kurzsichtigkeit des Menschen erkannt und erlebt, wie das, war er für sein größtes Glück hielt, zu seinem Unheil ausschlug, und das scheinbar größte Unglück zu seinem Heil. Auch in diesem Fall machte ich die gleiche Erfahrung. Das scheinbare Unglück meiner Verbringung in das Konzentrationslager gestaltete sich zu meinem Glück. Sie hat mir und meiner Frau das Leben gerettet. Denn niemals hätte ich ohne dieses Erlebnis freiwillig Deutschland verlassen. Ein Kapitän verlässt als Letzter das Schiff, und ich hätte, trotzdem in Deutschland selbst den Juden kaum noch etwas hätte helfen können, da mir der amtliche Auftrag fehlte, niemals mein Schicksal von dem der Allgemeinheit getrennt, wenn ich nicht das Intermezzo von Buchenwald als Fingerzeig Gottes empfunden hätte. Sofort nach meiner Rückkehr begab ich mich zum englischen Konsul, Mr. Shelley, einem Manne, der sich den naziverfolgten Juden gegenüber im Rahmen seiner (…)lichen Möglichkeiten menschlich wundervoll benommen hatte. Ich unterhielt seit langem die freundschaftlichsten Beziehungen zu ihm, und als ich ihn aufsuchte, und ihm meinen Entschluss, nach Erez (das Land Israel, damals das britische Mandatsgebiet Palästina) auszuwandern, mitteilte stellte er mir sofort ein Schreiben aus, in dem er mit kurz gesetzter Frist mir die Bewilligung eines Zertifikates versprach.

‚Damit -‘ so erklärte er mir ‚können Sie morgen bereits Ihrem Pass beantragen. Inzwischen beantrage ich telegrafisch, mit telegrafischer Rückantwort, in Jerusalem , ein Zertifikat für Sie. Ihnen ist es ja wohl gleichgültig welcher Art. Ich aber habe nur ganz wenige Kapitalisten Zertifikate zur Verfügung, die ich möchte ich für kinderreiche Familien aufsparen. Da Sie selbst Kinder drüben haben, können Sie ja von diesen angefordert werden‘.

Tatsächlich war binnen 3 Tagen der positive Bescheid aus Jerusalem eingetroffen. In kürzester Zeit erledigte ich alle notwendigen Ausreiseformalitäten, Pass, Zahlung einer Reichsfluchtsteuer und der Judenabgaben, und im März konnten wir unsere Umsiedlung vornehmen.
Dass meiner Frau und mir Theresienstadt und Auschwitz erspart blieben, danke ich meinem 14-tägigen Aufenthalt in Buchenwald.

Wenige Tage nach meiner Entlassung fand sich auch mein Sohn bei uns ein. Von befreundeter Seite war ihm ein Affidavit nach USA mit einer Berufung als Rabbiner verschafft worden, und auf Grund dieser Unterlagen war eine Entlassung mit der Verpflichtung, binnen bestimmter Frist Deutschland zu verlassen, verfügt worden.

Klaus Dürsch erhielt den Text von einer Verwandten von Dr. Ismar Freund in Israel. Es ist nicht bekannt, ob eine weitere Abschrift existiert oder ob der Text veröffentlich wurde. Der Text wurde wohl mit mehreren Durchschlägen mit einer Schreibmaschine ohne Umlaute und ß geschrieben. Die Rechtschreibung wurde geringfügig angepasst. Nicht alles konnte eindeutig entziffert werden. Da von einem Durchschlag kopiert wurde, waren nicht alle Buchstaben und Zahlen deutlich zu lesen. In den Klammern stehen Erklärungen.

https://dif-ingelheim.de