Josef Löb Eisemann und seine Frau Emma betrieben in der Stiegelgasse 51 in Ober-Ingelheim ein Lebensmittelgeschäft (Kolonialwarenladen). Josef Eisemann wurde 1861 in Mosbach in Hessen geboren. Er heiratete Emma Mayer aus Ober-Ingelheim.
Es wurden unter anderem Heringe, Zucker, Margarine, Kernseife, Wurzelbürsten und Tabak verkauft, kurz alles, was ein Tante Emma Laden zu bieten hatte. Sie führten das Geschäft bis zum Pogrom, das in Ingelheim am 10.9.1938 stattfand.
Inserat in der Festschrift zum 60jährigen Jubiläum der Turngemeinde Ober-Ingelheim am 13. und 14. Juni 1908 (Meyer S. 258)
Josefs Frau Emma war die Tochter des Fruchthändlers Simon Mayer und seiner Frau Sara geb. Reinhold. Simon Mayer wurde 1821 in Ober-Ingelheim geboren. Seine Frau stammte aus Oberlahnstein. Sie führten schon an der gleichen Stelle ein Kolonialwarengeschäft. Sie verkauften laut Inseraten u. a. Kunsthefe, Guanodünger, holländische Heringe und phosphorsauren Kalk. Simon Mayer backte auch die Mazzen, das ungesäuerte Brot für das Pessachfest. Es ist noch eine Zeichnung von einem Backofen erhalten, den er 1860 bauen ließ (Meyer 1998, S. 257).
Eine „alte Ingelheimer Familie“
Die Wurzeln der Familie lassen sich bis ins 18. Jahrhundert zurück verfolgen. Simon Mayers Eltern hießen Markus (1786-1845) und Gertrud Mayer (ca. 1786-1867). Auch Markus stammte aus Ober-Ingelheim, seine Frau aus Oppenheim. Markus Beruf ist nicht bekannt. Aus einem Dokument geht hervor, dass seine Witwe Gertrud 1863 sechs Felder und zwei Weinberge verkaufte. Ihre Mutter Sara (Sorle) zog 1814 von Oppenheim nach Nieder-Ingelheim und starb hier am 1.12.1817. Ihr Grab ist auf dem Friedhof „Im Saal“ (Grabstein Nr. 11).
Markus Vater Jakob Mayer (1738-1828) wurde ebenfalls in Ingelheim geboren. Er war Handelsmann. Seine Frau hieß Gisel, geb. Schimme.
Aus diesem Stammbaum wird deutlich, dass Familie Eisemann zu den Einheimischen gehörte. Die Aufzählung umfasst nur die direkte Abstammungsfamilie. Es lebten auch Nichten und Neffen, Onkel und Tanten in Ingelheim. Die Kleinfamilie war in das Netzwerk der Großfamilie eingebunden.
Engagierte Bürger
Einige erhaltene Dokumente weisen darauf hin, dass Eisemanns engagierte Bürger waren.
Jakob Eisemann und seine Söhne engagierten sich politisch in der Demokratischen Partei (DDP), einer liberalen Partei. Jakob Eisemann kandidierte laut einer Auszählungsliste zur Gemeinderatswahl von 1907. Er gehörte der 2. Kompanie der Ober-Ingelheimer Feuerwehr an. In der Festschrift des Ober-Ingelheimer Turnvereins zum 60-jährigen Jubiläum im Jahre 1908 inserierte Eisemann (Meyer S..258).
Die Kinder
Josef und Emma Eisemann hatten vier Söhne: Siegfried Marius, Ernst Simon, Richard und Rudolf. Sie wurden zwischen 1889 und 1901 in Ingelheim geboren. Die Eltern gaben ihren Kindern typisch deutsche Namen. Das weist auf ihre Assimilationsbestrebungen hin.
Siegfried, Ernst und Rudolf besuchten die Höhere Bürgerschule, die Vorgängerschule des Gymnasiums. Ihre Namen sind in Schülerlisten zu finden.
Der älteste Sohn Siegfried Marius heiratete 1927 Tekla Teutsch aus Venningen. Die beiden übernahmen das Geschäft der Eltern in der Stiegelgasse. Siegfried blieb als einziger der Söhne in Ingelheim, bis er aus seiner Heimat deportiert wurde.
Wir wissen nicht, wie sich der Boykott „Kauft nicht bei Juden“ 1933 auf die Eisemanns auswirkte und welche Folgen die anderen diskriminierenden Gesetze hatten, die erlassen wurden. Während des Pogroms vom 9. auf den 10. November 1938 wurden die Wohnung und das Geschäft der Familie Eisemann zerstört. Emma Eisemann erlebte das nicht mehr. Sie starb am 31.05.1937 in Ober-Ingelheim im Alter von 76 Jahren.
Aufgrund eines Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden vom 30. April 1939 ist dokumentiert, wie das Haus aussah. Es bestand aus einem Vorderhaus und einem Seitenbau. Dazu gehörten fünfeinhalb Zimmer, ein Abstellraum, Küche und zwei Keller. Dort lebten zu diesem Zeitpunkt Josef Eisemann und sein Sohn Siegfried Marius mit seiner Frau Tekla. 1939 wurden Juden in sog. Judenhäusern zusammengeführt. Dazu wurde die Größe des Wohnraums ermittelt. Jüdische Privatwohnungen und Geschäfte mussten verkauft werden. Es war die „Arisierung“ jüdischen Besitzes. Der Staat und viele Bürger bereicherten sich an jüdischem Eigentum.
Im November 1939 beschlagnahmte die Gestapo Lebensmittel und Bedarfsgegenstände aus dem Geschäft. Sie sollen angeblich gehamstert gewesen sein. Dies war eine der Maßnahmen, Juden zu diskriminieren. Die Gestapo beauftragte die Stadt Ingelheim in einem erhalten gebliebenen Schreiben, dass die Gegenstände „zweckmäßig und gerecht“ zur Verteilung gelangen sollten (Meyer, S. 246). Fragt sich nur, was hier gerecht war.
Josef Eisemann starb am 11.08.1939 in Frankfurt. Er und seine Frau Emma, die schon 1937 verstorben war, wurden auf dem jüdischen Teil des Friedhofs in der Rotweinstraße begraben. Dort sind ihre Gräber noch zu finden. Josef Eisemann hat viel Schlimmes miterlebt, das Schlimmste ist ihm durch seinen Tod erspart geblieben.
Siegfried Marius und Thekla wurden laut Deportationsliste vom 20. September 1942 mit 17 weiteren Ingelheimer Juden über Darmstadt nach Auschwitz deportiert (Meyer S. 500).
Dort wurde Siegfried Eisemann im gleichen Jahr ermordet. Über den Verbleib seiner Frau Tekla ist nichts bekannt. Sie gilt als vermisst. Zum Gedenken wurden vor ihrem Wohn- und Geschäftshaus Ecke Stiegelgasse / Aufhofstraße am 6. August 2006 zwei Stolpersteine gesetzt.
Der zweite Sohn Ernst Simon Eisemann wurde Diplomingenieur und heiratete Meta Offenbacher aus Marktredwitz. Sie ließen sich in Nürnberg nieder. Nach der Geburt ihrer Tochter Ellen 1927 starb die Mutter. Der Mann ihrer Schwester starb ungefähr zur gleichen Zeit. Ernst Simon heiratete Metas verwitwete Schwester Lola. Sie bekamen zwei weitere Kinder. Ernst Simon Eisemann wurde nach Auschwitz deportiert und dort am 28. Januar 1943 ermordert. Lola war bereits 1939 mit den drei Kindern nach Amerika ausgewandert. Ellen heiratete 1948 Lucien Greif (Meyer S. 510f.).
Die Eltern von Lucien und Ida Greif lebten von 1913 bis 1924 in Ingelheim, verzogen nach Mainz und emigrierten zu einem unbekannten Zeitpunkt in die USA.
Am 3. Oktober 2008 setzten Schülerinnen und Schüler der Integrierten Gesamtschule Ingelheim unter Leitung von Frau Schrader einen Stolperstein vor das Geburtshaus von Ernst Simon Eisemann. (Meyer, S. 511)
Zur Geschichte der Familie Teutsch siehe Isaak und Hilde Teutsch
Auch Lucien Greif stammte aus Ingelheim und emigrierte 1937 in die Nähe von New York. Erst später erfuhren er von seiner Frau, dass ihre Familien mit Ingelheim verbunden waren. Sie bekamen drei Kinder, Bruce, Kevin und David und Enkelkinder. Ellen und Lucien Greif folgten 1998 einer Einladung des Deutsch-Israelischen Freundeskreises in Zusammenarbeit mit der Stadt Ingelheim und besuchten ihre alte Heimatstadt.
Während seines Besuchs während der Begegnungswoche im November 2008 wurden Lucian Greif in der Integrierten Gesamtschule zwei Fragen gestellt, die er nicht sofort beantworten konnte. Während der Thanksgiving-Feier im gleichen Jahr stellte er seiner Frau die Fragen und zeichnete die Antworten auf. Hier die Fragen und die Antworten:
1. Frage: Sie fragten, wieso mein Vater Deutschland nicht verlassen hat. Es ist eine vertrackte Geschichte mit Anklängen an „Schindlers Liste“:
Wir hatten die Möglichkeit, Anfang der 1930er Jahre das Land zu verlassen. Aber mein Vater war, wie viele andere, ein guter Deutscher. Er war Träger des Eisernen Kreuzes aus dem 1. Weltkrieg. Er und sein Bruder waren schwer verwundet worden. Hitler schien ihm eine Abir-rung zu sein. Viele glaubten, er könne sich nicht halten. Die Deutschen wären zu zivilisiert für den Nationalsozialismus.
Die Geschichte beginnt mit meinem Großvater, der eine Schleifmaschinenfabrik in Marktredwitz in Bayern gründete . Er besuchte häufig Marien-bad, das heute in Tschechien liegt. Bei einem dieser Besuche lernte er eine junge Dame aus Atlanta im Bundesstaat Georgia, USA, kennen. Sie verliebten sich ineinander und heirateten. Die junge Dame blieb in Deutschland, gab ihre Staatsbürgerschaft aber nicht auf. Alle zwei Jah-re schiffte sie sich nach Amerika ein und besuch-te ihre Familie. Das Unternehmen florierte und Großvater, der definitiv die Familie regierte, legte Wert darauf, dass seine Schwiegersöhne Ingeni-eure waren. Mein Vater wurde der „Direktor“ der Firma, welche in den 1930er Jahren viele Kun-den und Investitionen in Europa hatte. Es war eine Art Vorläufer der der europäischen Globali-sierung.
Mein Vater wurde in den 1930er Jahren verhaftet die Fabrik, unsere Wohnhäuser und unser Besitz wurden beschlagnahmt. Die zeitliche Planung der Nazis war schlecht, denn mein Großvater hielt sich zu dieser Zeit in den USA auf. Da die Nazis Geld brauchten, um die Armee aufzubau-en, wollten sie, dass er ihnen seine ausländi-schen Investitionen überschrieb.
Meine Großeltern bemühten sich gemeinsam mit der amerikanischen Botschaft und den Konsulat, meine Mutter mit ihren beiden Töchtern aus Deutschland heraus zu bekommen. [Der Vater Ernst Simon befand sich bereits in Haft s.u.]. Die Deutschen wollten die Amerikaner nicht gegen sich aufbringen, bevor sie den 2. Weltkrieg be-gannen. So erteilten sie die Erlaubnis, dass die Kinder emigrieren durften. Sie hielten meine El-tern aber so lange fest, bis der Großvater zu-rückkehren würde. Wir zweifelten nicht daran, dass er im Falle seiner Rückkehr ins Gefängnis kommen würde.
Er blieb in den USA und unterstützte und leitete die Familie bis zu seinem Tod im Alter von 99 Jahren.
Meine Schwester und ich fuhren mit einem Schiff voller Nazis nach New York, zu der Zeit, als Hit-ler die Tschechoslowakei annektierte [1938]. Es war keine angenehme Überfahrt für zwei junge Mädchen.
Meine Mutter hing in Nürnberg fest. Sie war in schlechter Verfassung. Wir kannten durch unsere Geschäftsbeziehungen einen ungarischen Ge-schäftsmann. (Er brachte mir bei, Erbsen mit Messer und Gabel zu essen – und brachte mein Kindermädchen auf, als ich klein war.) Er war Pilot bei der ungarischen Luftwaffe. Anfang des 2. Weltkrieges tauchte er bei meiner Mutter auf. Er hatte einen falschen Pass, eine Sonnebrille, Make-up und einen Regenmantel für sie dabei. Er sagte: „Du bist jetzt meine Geliebte und ich bringe dich nach Frankreich!“ Das hat er dann gemacht. Es gelang ihr, nach England zu ent-kommen und am Ende des 2. Weltkrieges zu uns in New York zu stoßen.
Mein Vater war offensichtlich nach Dachau geschickt worden und dann nach Auschwitz.
Es klingt alles nach einem historischen Roman, aber die Geschichte ist wirklich passiert. Ich hoffe, dass ich Ihre Frage beantworten konnte.
Ellen Greif
PS von Lucian Greif, der vor kurzem euer Gast war:
Ellen Eisemann ist die Tochter von Ernst Simon Eisemann, für den ihr so liebevoll einen Stolperstein gesetzt habt, den ihr mir vor ein paar Tagen gezeigt habt.
Wir besuchten ihren Grabstein.
Meiner lieben Frau begegnete ich bei einem österreichischen Jugendtreffen in New York. Es war Liebe auf den ersten Blick, vor 62 Jahren. Wir haben drei Söhne, David, den jüngsten, seid ihr begegnet.
Ist das nicht ein gutes Drehbuch für einen Science-fiction Film, dem niemand glauben wird?
2. Frage: Wie konnten Sie/Ihre Familie mit dem grauenvollen, gewaltsamen Tod eines Familienmitgliedes fertig werden?
Ellen: Das ist eine gute Frage!!
Mein Vater wurde in Auschwitz ermordet, nach-dem er von den Nazis 1936 gefangen genom-men wurde. Wir durften ihn einmal besuchen. Ich habe manchmal noch Alpträume von diesem Besuch. Ich verehrte meinen Vater und konnte ihn nun kaum wieder erkennen, in Alt-Moabit, einem riesigen Gefängnis in Berlin. Im Alter von 8, 9 oder 10 Jahren. Ich wurde damit nicht fertig und weinte mich viele Nächte in den Schlaf.
Als ich in die USA kam, schrieb ich einen Brief an Präsident Roosevelt und bat ihn zu helfen. Aber ich erhielt keine Antwort.
Lange Zeit wussten wir nicht, was mit meinem Vater passiert war und wir hofften, dass wir ihn eines Tages wiedersehen würden. In gewisser Weise war ich auch besorgt, ihn wieder zu tref-fen. Der Mann, den ich im Gefängnis gesehen hatte, war so abgemagert und entsprach nicht dem Bild, das ich von meinem Vater hatte.
Dann mussten wir die Tatsachen anerkennen wie sie waren. Ich besitze noch ein paar Briefe, die er aus dem Gefängnis geschrieben hat und werde sie wahrscheinlich meinen Kindern weitergeben.
Es war schwer zu vergeben, es ist unmöglich zu vergessen und ich hatte in gewisser Weise weni-ger Vertrauen und war weniger aufgeschlossen als mein Mann, dem ihr begegnet seid und der mir eure Fragen überbrachte.
Er ist wirklich ein „softie“ und ich bin eine taffe alte Frau. Nach einem schweren Anfang hatten wir zusammen ein gutes Leben. Und ich hoffe das für euch auch.
Ellen Greif
Das dritte Kind Richard Eisemann studierte in Frankfurt Soziologie und promovierte dort. Richard wurde im 1. Weltkrieg schwer verwundet. Ihm wurden mehrere Verdienstorden verliehen. 1920 wanderte er in die USA aus und arbeitete dort als Rechtsanwalt. Er starb 1977 in Kalifornien.
Der vierte Sohn Rudolf Eisemann wanderte nach Argentinien aus. Er starb dort 1979.
Heinrich Herbert schreibt im „Ingelheimer Lesebuch“ über die Familie Eisemann:
Da war z.B. unten an der Ecke Uffhubstraße / Stiegelgasse das Lebensmittelgeschäft Eisemann, ein kleiner jüdischer Laden nur, vielleicht 30 Quadratmeter. Man ging ein paar Stufen hoch und beim Öffnen der Tür klingelte es. Hinten an der Rückwand waren vom Boden bis zur Decke Regale. Im mittleren Drittel mit Schubladen drin. Alles aus Holz. Und vorne in der Mitte jeder Schublade befand sich ein weißes, ovales Emailschildchen, auf dem in schwarzer Schrift der Inhalt angegeben war. Auf einem Sockel standen immer zwei oder drei an den Rändern aufge¬rollte Jute- oder Leinwandsäcke. Da war Kristallzucker drin, und Graupen und Viehsalz. Auch ein hölzernes Heringsfaß stand auf dem Sockel mit einer hölzernen Greifzange drin.
Auf einer fast die ganze Breite des Ladens einnehmenden Holztheke stand rechts eine alte Balken-Teller-Waage aus Messing mit einem Zeiger in der Mitte. Darauf wurde alles abgewogen und in spitze, graue Tüten gefüllt. Alles mit Ausnahme von Margarine, Kunsthonig, Butter und Waschmitteln. Es war die Zeit so um 1927 herum, als die Fertigpackungen für diese Artikel aufkamen.
Auf der linken Seite der Theke standen in einer Halterung ein paar große Bonbongläser. Ganz oben in den obersten Regalen lagen Piassava- und Haarbesen, Wurzelbürsten, Faß-, Schuh- und Haarbürsten. Tabak, Kautabak, Zigarren, Zigarillos und Zigaretten beanspruchten mehrere Regalfächer. Von jeder Zigarettensorte gab es auch Zehnpfennig-Packungen mit 3 bis 4 Zigaretten Inhalt. Das war die Tagesration vieler Arbeiter und vor allem der Arbeitslosen. Eckstein, Greiling, Salem und Senussi waren die bekanntesten Marken.
In anderen Fächern lagen Schuhwichse, Zahnpasta, blanke lange Kernseifenriegel, Putzlumpen, Wurstkordel und viele Dinge des täglichen Bedarfs. Auch ein etwa 10 Liter fassendes Steingut-Senffaß mit Holzdeckel stand auf der Theke. Wenn man Senf haben wollte, mußte man stets ein Glas oder eine Tasse dabei haben. Auch Heringe und Rollmöpse gab es lose. Man mußte dafür einen Teller oder eine Schüssel mitbringen. An der linken Ladenseite hingen an Haken Zöpfe mit Lederschuhriemen, Bast und Kälber-und Erntestricke.
Je mehr ich heute darüber nachdenke, umso mehr wird mir bewußt, daß es in den kleinen Lebensmittelgeschäften von damals eigentlich viel mehr zu kaufen gab als reine Lebensmittel. Die Menschen auf dem Land waren ja zum großen Teil Selbstversorger. Fast in jedem Haus wurde ein Schwein ge¬mästet, es wurden Hühner gehalten, in den Hausgärten gab es Gemüse, Salat, Tomaten, Obst, Gewürzpflanzen und Pfefferminz- und andere Teesorten. Vom reinen Lebensmittelgeschäft hätten also auch der alte Joseph Loeb-Eisemann und seine Frau Emma nicht leben können, zumal sie vier Söhne hatten; den im ersten Weltkrieg schwer verwundeten Richard und seine Brüder Ernst, Rudi und Marius. Über den ältesten berichtete die Ingelheimer Zeitung am 1.Januar 1920:
„Als ersterlegte an dem neugegründeten Stuhl für Soziologie und Sozialismus an der Universität Frankfurt Dr. Richard Eisemann das Examen ab. Der Doktor der Staatswissenschaften wurde ihm bereits vor einiger Zeit auf¬grund seines Buches ‚Kriegspolitik und Kriegsernähungspolitik‘ verliehen.
Dr. Richard und seine Brüder Ernst und Rudi verließen nach ihrer Berufsausbildung das Elternhaus und sie konnten auch Deutschland rechtzeitig verlassen und damit der Vernichtung entgehen. Der Sohn Marius, ein liebenswerter aber recht linkischer Mann, betrieb im Elternhaus einen kleinen Landprodukte-Handel. Hatte er in den Selztalorten zu tun, dann sah man ihn sein Fahrrad die Uffhub hinaufschieben. Erst auf der Winternheimer-Chaussee bestieg er vorsichtig und bedächtig sein Rad. Kam er zurück, dann stieg er vor der Uffhub wiederum ab. Mit dem Fahrrad da hinunterzufahren, das war dem Marius Eisemann zu riskant. Also ging er neben seinem Rad nach Hause, wobei er alle Leute ein wenig schüchtern grüßte. Sein Vater, langjähriges Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde Ober-Ingelheim, stand immer im Laden. Auch wenn keine Kundschaft da war. Gerade aufgerichtet, die Handknöchel auf die Theke gestützt stand er mit seinem bunt bestickten schwarzen Käppchen da, als hätte er auf einen gewartet.
‚Was kriehst de dann, moi Liewer!‘
Das klang zwar eher nach einem Befehl als nach einer Frage, war aber nicht so gemeint. Wenn man das Geld passend hatte, dann ließ er es durch Schlitze in der Theke verschwinden. Da gab es einen Schlitz für Kupfergeld, einen für Messingmünzen und einen für das sogenannte Silbergeld. Durch die Schlitze fielen die Münzen in die entsprechende Kammer der Geldschublade. Mußte Joseph Eisemann einmal in den Lagerraum, dann schloß er die Schublade stets ab und nahm den Schlüssel mit. Der war mit Kordel an ein hölzernes Garnröllchen gebunden. Richtig böse erlebte ich Eise¬mann damals, als das neue Vierpfennigstück herauskam. 1932 war das. Dieses Kupferstück war noch etwas größer als ein Markstück und er mußte deshalb extra den Kupfergeldschlitz in der Theke mit einer Holzraspel verlängern.
Viel Geld fiel dann aber nicht mehr durch die Schlitze der Theke. Emma Eisemann starb 1937, Joseph entging durch seinen natürlichen Tod am 11.08.1939 im Alter von 78 Jahren dem schlimmen Los, das seinen Sohn (Siegfried) Marius und dessen Frau Thekla geborene Teutsch im Konzentrationslager ereilte.“
Quelle: Heinrich A. Herbert: Ingelheimer Lesebuch. Ingelheim 1992, S. 104-105.
Zu Familie Teutsch siehe auch Isaak und Hilde Teutsch